Hapi tat das, was er noch nie gewagt hatte. Was er sich niemals hatte erdreisten wollen. Entgegen seiner Natur, seiner Aufgabe, war er stiller Zeuge einer Geburt geworden. Die Gottheit, welche Menschen normalerweise in ihren letzten Atemzügen begleitete, beobachtete nun, wie ein kleiner Prinz das Licht dieser furchtbaren Welt erblickte.
Eine Welt, die er ändern würde, wenn man Abryss' Worten Glauben schenken wollte.
Was Hapi selten tat.
Der Tod war dem jungen Prinzen gefolgt, die frühen Jahre seiner Kindheit lang, und erstattete Abryss treu Bericht über die Entwicklung seines Schützlings. So auch an diesem stürmischen Wintermorgen.
Erst im Nachhinein würde ihm die Schwere dieses Tages bewusst werden.
Das Licht kämpfte sich durch die dichten Baumkronen des zephyrischen Waldes und ließ den Schnee schimmern wie Kristallhaufen. In der Ruhe, durchbrochen von heiterem Gelächter, sah Hapi auf, erkannte vier Kinder die Lichtung entlangrennen. Bis zu den Knien blieben sie im weiten Weiß stecken und preschten dennoch ungebremst voran.
Luciel, Shiloh und die Zwillinge.
Ohne Begleitung, denn die Schlosswache hatten sie bereits am Waldrand abgehängt.
Hapi hüpfte von seinem Versteck (ein Ast) hinunter und landete im Pulverschnee.
„Habt ihr das gehört?", fragte Luciel und wirbelte umher.
Seine Frage ging in einem Schrei unter, als Phobos ihm eine Handvoll Schnee in den Kragen kippte. Sie würden Hapi nicht sehen. Niemand sah den Tod jemals kommen.
„Das bildest du dir nur ein", scherzte Shiloh und hakte sich bei ihm unter, "Wie letztes Mal im Kerker, wo du angeblich Geister gesehen hast!"
„Ich habe sie gesehen!", zischte der jüngste Prinz und stampfte wütend davon – seine Bäckchen hochrot.
Der Tod folgte ihnen, warf ab und ab Nüsse an ihre Köpfe, zertrat mit Absicht kleinere Äste und genoss den Anblick, wie sie allesamt ängstlich zusammenzuckten. Menschen waren so einfach! Einfach zu verstehen, einfach zu verletzen, einfach zu verschrecken.
„Neuerdings behauptet er, ein Mann würde ihm folgen." Shiloh und die Zwillinge hatten die Köpfe zusammengesteckt und teilten ihre Erkenntnisse über Luciels Wahnsinn, "Er sagt, es wäre ein Gott."
Shiloh kicherte und Phobos zog ihr grob am Pferdeschwanz, "Nur wir dürfen unseren Bruder auslachen!"
Luciel lief einige Meter vor ihnen hinweg und da geschah es auch. Im Winter sah der Wald eben aus, selbst wenn er es nicht war. Der kleine Junge erkannte den Abhang erst, als er hinunterfiel und davonkullerte. Eben war er noch da gewesen. Hapi hatte geblinzelt. Dann nicht mehr. Shiloh kreischte auf und die Zwillinge rannten los, ihrem Bruder nach. Ihre Panik war jedoch unbegründet. Luciel würde nicht heute sterben. Dafür war Hapi nicht hier.
Der Prinz lag am Fuß des Hangs, regungslos. Ein Felsen hatte seinen Weg unterbrochen. Die Zwillinge schüttelten ihn, rüttelten ihn und entdeckten das Blut an seiner Hinterseite erst, als es zu spät war. Eine Spitze des Steins hatte sich in Luciels Rücken gebohrt, die Seele vom Körper getrennt. Doch das würden die Menschen nicht erkennen. Sie besaßen nicht die Augen der Götter. Der Junge war nicht gestorben, doch Mensch war er von diesem Moment an auch nicht mehr. Abryss' Geschenk verloren. Das war sein Schicksal. Seine Seele hatte die Unsterblichkeit erreicht, auch wenn der Körper weiteralterte – ihre Verbindung gebrochen.
Hapi staunte und beugte sich zu Luciel hinunter. Das Schicksal war wirklich eine grausame Liebhaberin. Unversehrt hätte er das Königreich stürzen können, warum ihn derart hinrichten?
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasíaKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...