Kapitel Siebenundfünfzig

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Der dunkle Himmel weinte dicke weiße Flocken. Gebogen und gekreuzt, verwoben und spitz prasselte der Schnee auf die Erde, hüllte Berge in dichte Gewänder. Das Licht der Sterne ließ sie glitzern wie Glas, wie Millionen Diamanten. Eine Flocke komplizierter als die nächste.

Sie vermisste den grünen Boden nicht. Wie konnte man schließlich etwas vermissen, was man nicht kannte?

Das Eis folgte ihr überallhin.

Azura, Göttin des Winters, tapste durch den Schnee. Die Spuren ihrer nackten Füße erstreckte sich meilenweit und doch hatte sie ihr Ziel noch nicht erreicht.

Bald jedoch.

Die Versammlung der Götter, der Entscheid über das Schicksal aller Menschen. Wir werden nun unter ihnen weilen, hatte man Azura mitgeteilt, über sie regieren. Sie hatte sich noch keine Meinung über die Zukunft gebildet. Hier in den Bergen traf sie selten Sterbliche. Die meisten waren verlorene Wanderer, die ihre Hilfe dankend angenommen hatten. Auch wusste sie nicht viel über die anderen Götter. Dies war das erste Mal, dass sie ihren Berg verließ. Was hatte die Welt jenseits der schneebedeckten Gipfel ihr zu bieten?

Eine Schneeflocke landete auf ihrem Finger. Azura erkannte sie: Die kleine Flocke war ihr vom Gipfel hinabgefolgt. Sechs Arme hatte die kleine Eisblume mit spitzen Zacken und einem prächtigen Stern in der Mitte. Sie hatte bereits länger gelebt als ihre eisigen Geschwister.

„Meine Schönheit! Wie ist dein Name?", fragte die Wintergöttin und streichelte die kleine Flocke.

Doch besaß sie keinen Namen. Eiskristalle waren nicht bestimmt für Namen. Sie lebten nicht lange genug. Es war ein glücklicher Tag der ersten Male, als sie die Schneeflocke gegen das Licht hielt und die Sterne durch ihren transparenten Körper beobachtete.

„Ich werde dich Saipe nennen", schmunzelte sie und steckte die Flocke in ihr Gewand – nah an ihr Herz, "Ein vielsprechender Titel für eine vielsprechende Seele."

Saipe leistete ihr Gesellschaft auf ihrer tagelangen Reise. Genährt von Azuras Göttlichkeit nahm sie nach einer Woche eine menschliche Form an. Saipe sah wie sie aus; sie hatte die gleiche blasse Haut, das gleiche weiße Haar und die gleiche Stupsnase, gerötet von den eisigen Winden. Ihr Blick hingegen, Götter, ihr Blick! Grau wie die hohen Klippen, scharf wie ein Messer und kalt wie der tiefste Winter, den Azura je gezaubert hatte. Wie furchterregend schön! Das göttliche Baby weinte nicht, starrte stumm in das Tal, als wüsste sie genau, wo das Schicksal sie eines Tages hinbringen wollte.

Saipe.

Welch' gelungener Name!

„Saipe", sprach sie zum Göttersäugling, "ab heute bist du meine Göttin des Schnees. Ich brauche sicherlich Hilfe, wenn ich die Menschen mitregieren soll."

Das Kind lachte und ein Schneesturm zog auf - mit Hagel, spitz wie Eiszapfen. Azura hielt Saipe dicht an ihre Brust, band sie mit ihren losen Gewändern fest um sich und setzte ihren Weg fort.

Ein Erdbeben erfasste den Boden unter ihren Füßen. Saipe erwachte, erschrocken, und begann bitterlich zu schreien. Sie spürte die finstere Energie aus dem Boden sprießen. Blut quellte aus den Rissen in der Erde und ein neuer Berg wuchs vor ihren Augen.

„Fürchte dich nicht", flüsterte Azura, "Der Gott der Unterwelt greift wieder nach den Sternen."

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt