Der Gott des Todes erinnerte sich noch genau an den Tag seiner Geburt. Seine zweite Geburt, wenn man so wollte. Er hatte bereits vorher existiert. Als Teil von Dea. Doch hatte ihn das eigene Leben erreicht wie das der Götter, die nach ihm entstanden waren – durch einen Wunsch. Jeder und alles konnte einen Gott gebären, solange ihr Wunsch einer des Herzens war. Einer von eisernem Willen und unbrechbaren Absichten; löblich und verwerflich gleichermaßen. Menschen konnten Heilige erschaffen, waren sie in Massen. Vögel, Steine, Fische, der Schnee und selbst das Laub der Bäume konnten es, doch nichts war stärker als der Wunsch eines Gottes.
Der Tod erwachte unverhofft eines einsamen Tages, Rinnsale von Tränen über seinen Wangen, doch sah er nicht die Welt durch Deas gewohnte Augen, sondern durch eigene. Gottheiten begannen ihre Existenz als Kinder, doch war sein neuer Körper ausgewachsen. Neugierig verdrehte er die muskulösen Glieder, zerbrach Kiesel zwischen seinen Fingern und trat Löcher in den Boden. Er wusste sofort, wer er war.
Was er war.
Wozu er hier war.
Schmerz, Deas Schmerz, die Bitte nach Erlösung hatte ihn zum Leben erweckt. Seine Brust verdrehte sich, knotete sich zusammen – fest, fest, fester, bis er nicht mehr atmen konnte.
Bitte, so soll mir doch jemand helfen!
Perlen bohrten sich in seine nackten Füße, als er einem unsichtbaren Band folgte. Es waren Tausende, Hunderttausende, Millionen von schimmernden Kugeln, dich am Boden glitzerten. Ein ganzes Feld war gefüllt von ihnen! Sie jaulten, schrien, riefen nach ihm.
Ich kann es nicht tun!
Dann dort: in ihrer Mitte fand er sie, seine andere Hälfte. Dea kniete zwischen den verstorbenen Seelen in einem Meer von Trauer, die Hände auf die Ohren gepresst und so laut wimmernd, dass es beinahe den Boden unter ihm beben ließ. Auch sie quälten die Rufe nach Rache, nach Absolution, nach Gerechtigkeit. Doch war es gewiss keine Sprache, die sie verstand! Dafür war er nun hier.
„Wie grausam der Sonnengott ist", seufzte der Tod und hockte sich zu Dea, "Er schafft Leben und vergisst, wer sich um ihren Tod kümmern muss."
Sie erschrak und einige Sterne zerfielen, schaute zu ihm, Stürme in ihrem Blick. Flimmernde Finger umschlossen seine Wange, wischten Tränen hinfort.
„Du bist...", hauchte sie, "...ein Teil von mir, nicht wahr? Ich erkenne dich, meine Hälfte."
Ein Weidenkorb ruhte an ihrer Brust, gefüllt mit noch mehr Seelen – alle ziellos. Auch sie wussten nicht wohin. All ihre Erinnerungen, die schönen und grauenhaften, fluteten seinen Kopf. Schmerz zog in sein Herz ein, Freude benebelte die Sinne, Trauer betäubte seine Glieder und Liebe kitzelte auf der Haut. Der Gott des Todes biss sich auf die Lippen. Zu viel! All die Seelen, all ihre Gefühle waren zu viel!
„Jemand muss sich um sie kümmern. Sie leiden."
Dea schüttelte den Kopf, als ein neuer Schwall des Unmutes über sie einbrach.
"Ich kann es nicht tun", schluchzte sie, "Sieh es doch selbst! Wie jung einige von ihnen noch sind, wie hasserfüllt ihre Gemüter, wie schrecklich ihre Vergangenheit!"
Aus Perlen wuchsen Körper, Menschen. Ihre Seelen nahmen neue Formen an. Der Gott sah umher, saugte jedes einzelne der unendlichen Masse an Gesichtern auf. Alt und jung, gebrechlich oder krank; der Gott erkannte die abgetrennten Köpfe, die verstümmelten Körper, die geplagten Geister und wie der Mensch nicht besser war als das Monster, das er in seinen Feinden zu finden glaubte. Neugeborene, kaum alt genug für Sprache, erdrosselt in ihren Bettchen – ihre Leben nicht länger als ein Augenblick. Soldaten ohne Kindheit, gefallen auf dem Schlachtfeld für einen Meister, dem ihre Namen unbekannt waren. Der Tod wollte um sie trauern, wollte er wirklich (!), doch brodelte die Wut in ihm auf.
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasiKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...