Kapitel Vierundvierzig

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Abryss hatte die Menschen immer geliebt, war ihnen immer mit Wohlwollen gegenübergetreten. Die Welt unter ihren Füßen, die saubere Luft, die sie atmeten, das Feuer, das sie nachts warmgehalten hatte – all diese göttlichen Geschenke Beweise seiner Zuneigung.

Wie erschrocken die Menschen also gewesen waren, als eines Tages die Sonne nicht mehr aufging. Der Horizont leergeblieben war. Die Erde erkaltete und die Gebete an den Sonnengott häuften sich. Doch war dies nicht die einzige Veränderung.

Nach dem Nachtfall hatten alle Sterne den Himmel verlassen – mit ihnen der Mond. Dea und Abryss hatten die Welt hinter sich gelassen!

Die Menschen glaubten schnell, dass sie die Götter erbost haben mussten.

Was eine Untertreibung war.

Luciel starrte auf seine Finger hinunter. Seine Finger, die sich nicht anfühlten wie seine. Er sah zu, wie die fremden Finger eine Tasse zu seinen Lippen führten. Beruhigungstee, hatte man ihm versichert, für deine Nerven. Nicht einmal der stärkste Schnaps des Kontinents würde ihm zur Ruhe helfen, doch traute er sich dies nicht zu beichten. Nicht hier. Nicht in dieser Gesellschaft.

Nicht an diesem Ort, wo die Sonne trotz allem schien.

Und der Grund dafür neben ihm, im Zen. Tee trinkend. Den blühenden Garten genießend. Nach Vinas – Deas – Tod, nein, Fall hatte man ihn hierhergebracht.

Wo auch immer hier war. Ein kleines Haus in einem Wald irgendwo in Verindae.

Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Gold rieselte von seinem Haar und landete in Luciels Tasse. Kann man mittrinken, sagte der Blondschopf und musterte den Prinzen.

„Hast du alles verstanden?", fragte er, "Oder soll ich nochmal von vorne anfangen?"

Luciel blickte den Hirschjungen, nein, Dyan, nein, den Sternschnuppenhirsch an und lachte – lachte, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte.

Er lachte, bis er keine Luft mehr bekam.

Er lachte bis Abryss' Blick eine sorgende Natur annahm.

Er lachte und lachte und lachte, als wäre dies der lustigste Witz, der je seine Ohren erreicht hatte. Weil es so war. Sie sind doch verrückt, diese Götter!

„Ich denke drei Male sollten genügt haben, Dyan", sprach Abryss und stellte seine Tasse ab, "Du darfst unser Schweigen nicht nachtragen, Luciel. Wir haben dir die Wahrheit verschwiegen, weil all dies sehr viel für einen menschlichen Verstand sein kann."

Abryss musste es wissen, musste wissen, was Luciels Verstand aushielt – Schöpfer seines Lebens. Der Prinz zitterte am gesamten Körper und trotz der Sonne (neben ihm) bleib die Wärme seinem Inneren fort.

„Lügen kann man wohl kaum Schweigen nennen", lächelte er und fixierte die Person auf der gegenüberliegenden Seite des Steintisches.

Hapi fläzte in seinem Sitz, die Füße auf der Platte aufgelegt und der Blick überall, aber nicht auf Luciel. Kannte er den Tod schlechter, würde er wagen zu behaupten, ein schlechtes Gewissen würde ihn plagen. Aber das war immer noch Hapi.

„Was hätte es dir gebracht zu wissen, wer Vina wirklich ist? Wer wir wirklich sind?"

Götter, einst verbunden als Dea, heute Geschwister.

Vinas graues Auge traf Luciel, Hapis schwarze folgte hinterher. Sie, seine geliebte Vina, war irgendwo dort. Irgendwo in Hapis Körper. Wie konnte Luciel nicht dem Wahnsinn verfallen?

„Du hast nicht nur mich angelogen", murrte er, "Vina auch. Sie hätte die Wahrheit am meisten verdient."

Der Tod richtete sich auf, nahm die Füße vom Tisch und stand auf. Seine Handflächen ruhten auf der Steinplatte, brannten sich in das Material.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt