Kapitel Vierzig

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Die Unterwelt war der furchtbarste Ort dieser Welt. Wenn es an ihren schönsten Ecken nach verkohltem Fleisch und Dreck roch, dann durchdrang an ihren hässlichsten Abschnitten der Gestank von Verwesung die dünne Luft. Nicht der Duft war zwingend das Schlimmste hier unten, sondern die Schädlinge, die er anlockte. Im Sommer ertranken Gespräche im Surren der Fliegen. Bis zu den Knöcheln versank man in Maden, Schaben oder anderem Gewürm. Berge türmten sich hier unten aus Knochen (es gab immer einige, die ihre Strafen nicht überlebten), Flüsse aus Blut und anderen Körpersäften teilten die Landschaft, Bäume aus Körperteilen wuchsen aus der fruchtbaren Erde. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig, als das Herz eines Sünders einzubuddeln, in der Hoffnung, irgendetwas Schönes könnte noch daraus erblühen. Ähnlich verhielt es sich mit den Büschen aus geöffneten Brustkörben, die wie Spinnenlilien aus der Erde brachen.

Doch musste man der Wahrheit Platz einräumen. Nicht überall sah die Unterwelt so aus. In oberen Kreisen der Hölle, ließ es sich sogar recht angenehm leben – war man kein Gefangener. Je schlimmer das Verbrechen, je dunkler die Seele, desto tiefer in der Unterwelt fand man sie. Die Abgründe der Menschheit vereint an einem einzigen Ort.

Ihre Strafen waren immer das Gegenteil ihrer Verbrechen. Mörder starben immer und immer wieder durch die Hände ihrer Opfer. Erstochen. Vergiftet. Zerstückelt. Verbrannt. Erdrosselt. Kaum schlossen sich ihre Augen, der Kampf des Körpers verloren, so heilten die Wunden und die Folter begann von neu. Einige litten mehr als andere.

Lügner durften keine Wahrheiten mehr sprechen, wohingegen Schläger ihre Gliedmaßen verloren. Ehebrechern fielen die Geschlechtsteile ab, gierige Seelen schleppten schwere Goldklötze durch die Gegend. Bis ihre Sünden gebüßt waren, verbrachten sie ihre Zeit hier, wuschen ihre Seelen rein. Einige blieben bloß für wenige Jahre, andere würden nie das Licht des Himmels wieder erblicken.

Doch egal wo man sich befand, Vinas Weinen erreichte einen überall.

Sie fürchtete die Seelen hier unten, zu was ihre kleinen Köpfe fähig waren. Wie sie sie ansahen, mit ihr sprachen, sie verehrten, als wäre sie ebenso verdorben. Ihre Schreie waren die größte Strafe. Ohrenbetäubend. Körper zerreißend. Seelen zerberstend. Nichts fürchteten die Sünder mehr als ihre Göttin und ihre Ankunft.

„Was ist dieser fürchterliche Ort?", fragte Vina.

Der Wind peitschte in den oberen Höllenkreisen erbarmungslos und die Göttin schlang ihren Mantel enger um sich. Der Stoff verschlang ihre Statur. Die Wütenden weilten hier, getrieben von frostigen Stürmen, auf dass die Hitze in ihnen endlich erlosch. Sie passierten einige Seelen, die zu ihren Füßen lagen in devoter Verbeugung. Eis zog wie eine zweite Haut über ihre Rücken, spitze Zapfen hingen von ihren Nasen.

Vina blieb vor einigen stehen, beobachtete ihre gequälten Gesichter. Sie frieren, Hapi. Das Mitgefühl fraß sich in ihre Sorgenfalten. Seine Schwester liebte alle Menschen, selbst die bösen. Zu groß war ihr Verlangen nach Anerkennung von Abryss' Geschöpfen – genauso verdorben wie ihr Gott. Liebe war ein kompliziertes Unterfangen.

„Es ist unser Reich. Hier leben die Sündigen", sprach Hapi und zog sie weiter.

Die Unterwelt bebte mit Ekstase, hatte einen Palast in der Mitte errichtet – nur für die Göttin, welche nun endlich angekommen war. So viele Seelen hatten sich angesammelt. Jahrzehnte würden vergehen, bis sie alle verurteilt waren!

„Wie lange müssen wir bleiben?"

Nervös rutschte ihr Blick zum Schlund, durch welchen sie hineingekommen waren. Die Pforte hatte sich hinter ihnen versiegelt, würde sich wohl erst wieder öffnen, wenn die Arbeit erledigt war. Wenn alle Sünder bestraft, über alle Seelen gerichtet worden war.

„Ich weiß es nicht", murmelte der Tod.

Eine Kakerlake, mannshoch, kreuzte ihren Pfad. Hinter ihr folgte eine Gruppe Kastrierter. Vergewaltiger auf dem Weg zu ihrem Höllenkreis, erkannte Hapi und leitete Vina weiter. Er wusste, was mit ihnen geschehen würde und dieser Anblick war nichts, das er seiner Schwester zumuten wollte.

„Ich fürchte mich, Hapi..."

Eng nebeneinander erreichten sie den Palast der Unterwelt. Es war ein Gebilde aus schwarzem Stein, das sich wie ein Pendel turmartig durch alle Höllenkreise zog. Balkone stachen an den Seiten hervor. Hapi schnaubte. Als ob es hier eine Aussicht geben würde, die es zu bewundern wert war. Große Fenster ließen rotes Licht ins Innere der Thronhalle gelangen. Ein langes Tonnengewölbe scheuchte sie weiter hinein, tiefer in den Schlund er Hölle. Vina schauderte neben ihm, als ihr Blick den Thron in der Mitte des Gemäuers einfing. Oberschenkelknochen, Ellen, Schienbeine, Schädel – sie alle fein drapiert in der Form eines Sitzes, welcher der Göttin der Unterwelt gerecht werden sollte. Doch Vina wollte all dies nicht!

Der Ekel überkam sie und sie erbrach einen Schwall Sternenstaub.

„Ich höre sie rufen", röchelte sie.

Hapi ließ seine Hand aufmunternd über ihren Rücken gleiten. Mit jedem Schluchzen zitterte sie ein wenig mehr und der Tod glaubte, Abryss nie mehr hassen zu können als in diesem Augenblick.

Wie er sich doch täuschte. Wie groß seine Abscheu noch wuchern würde!

„Du musst dich setzen. Die Unterwelt braucht eine Göttin."

Sonst würden sie diesen verfluchten Ort niemals verlassen dürfen.

Vina fing sich rasch, wischte sich den Mund mit ihrem Ärmel ab und wankte auf den Thron zu. Auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, nahm sie Platz und atmete tief durch. Beide Gottheiten ahnten bereits, was geschehen würde. Es überraschte sie dennoch nicht weniger.

Mit einem Mal schossen unzählige lange pechschwarze Schatten, so dunkel wie die Nacht selbst, aus dem Boden, steuerten Vina von allen Seiten aus an und packten sie, bevor auch nur eine Sekunde hätte vollendet werden können.

Die Arme schnitten in ihr Fleisch und ließen jede Möglichkeit zur Flucht zerfallen wie Staub. Der Boden unter ihnen riss weiter auf, unter Grölen und Knacken, Brechen und Biegen zerbärste die Thronhalle. Mauern stürzten um, zerschellten am Boden, versanken in dem roten Meer. Arme, von Rot überströmte Hände, langten aus dem Meer, ergriffen alles, ja alles, was zwischen ihre Finger kam, und zogen sich aus der Erde mit dem schrecklichsten Leidenslied, welches je die Ohren der Götter erreicht hatte. Sünder so alt wie die Menschheit selbst, blinde Monster, nackte Bestien, gedankenlose, sinnlose Wesen mit nichts außer dem Drang zu töten krabbelten wie Maden aus der Dunkelheit empor und schienen nur einem Ruf zu folgen.

Dem Ruf der Unterwelt.

Und sie wollte ihre Göttin willkommen heißen.

Tausende Paare mit Krallen, hungrige Finger packten nach Vinas Beinen und hievten ihr Gewicht an ihr hoch. Sie versuchte sich zu wehren, doch vergebens. Die Unterwelt bekam immer ihren Willen.

Bitterliche Schreie erreichten Hapis Ohren, als die roten Schatten die ersten Stücke Fleisch aus Vinas Körper lösten und daran nagten, als hätten sie Dekaden lang gehungert. Es war ein furchtbarer Anblick für den Tod, dem wohl kein Schrecken des Lebens unbekannt war. Doch würde selbst er noch eine lange Zeit Albträume von diesem Tag davontragen. Viele der Sünder - Seelen, die einst mit Liebe und Fürsorge erschaffen worden waren, waren kaum noch wiederzuerkennen. Ihre Verbrechen hatten ihre dunkelsten Seiten ans Tageslicht gebracht, ihr Innerstes nach außen gekehrt und Hapi konnte sich nicht vorstellen, wie etwas, das mit solch Hingabe kreiert worden war, so hässlich sein konnte.

Die Unterwelt verschlang Vina, zog sie in die endlosen Tiefen.

Um die Unterwelt beherrschen zu können, musste sie Teil von ihr werden. Wenn auch gezwungen.

Hapi seufzte schwer, setzte sich in den Schutt und wartete auf ihre Rückkehr.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt