Kapitel Vierundfünfzig

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„Lasst uns aufbrechen."

Luciel fand an seinen eigenen Worten keinerlei Wahrheit, war sein eigener größter Zweifler. Jede seiner Fasern wehrten sich gegen den nächsten Schritt. Der kleinste Zentimeter getrennt von Vina zu viel Entfernung. Nicht zurückblicken, er durfte nicht zurückblicken. Es war kein Abschied für lang. Bald, wenn er sein Versprechen gebrochen hatte, dann würden sie wieder zueinander finden.

Als Ebenbürtige. Als Götter. Himmelswesen.

Wenn sie dies realisiert hatte, wäre es bereits zu spät gewesen.

Splitter und Scherben ihres Vertrauens würden den Weg in die unendliche Zukunft pflastern, doch war Luciels Gewissen rein. Selbst wenn ihr Zorn Jahre überdauerte, hätte er den Rest der Ewigkeit zur Verfügung, um Wiedergutmachung zu leisten.

„Ihr habt euch durchaus Zeit gelassen." Hapi zog eine Augenbraue hoch, "Bist du bereit?"

Vatermörder. Königsstürzer. Himmelserklimmer.

Die Namen schwirrten in seinem Kopf, benetzten seine Zunge mit bitterer Schärfe und überdeckten den berauschenden Geschmack von Vinas Kuss. Als hätte er Gift geschluckt und würde nun gleich elendig dahinscheiden. Die letzte Etappe auf dem Weg zur Vollkommenheit.

All seine Anspannung entfleuchte in einem tiefen Atemzug. Die plötzliche Ruhe in Person schwang sich auf Dyans Rücken, Hapi vor ihm.

„Wir drei wissen, was nun geschehen wird, oder?", fragte Luciel.

„Erleuchte uns, Luciel."

Der Sternschnuppenhirsch kletterte den Himmel hinauf und Luciel verkrallte sich in den Schultern des Todesgottes. Noch war er Mensch, noch waren die Wolken nicht sein Zuhause und noch lag es in seiner Natur, die Höhen zu fürchten. Ein Leben lang auf den Boden gefesselt, in einem goldenen Käfig gehalten – wer würde es ihm verübeln?

„Bringt mich zu ihnen", sprach Luciel, "Bringt mich zu den Dämonen."

Er wusste es bereits, hatte es seit dem Abend des Angriffes gewusst. Die Sünder hatten sich nicht vor Hapi verbeugt, nein, sie hatten ihn gemeint. Ihre Rufe hatten sein Innerstes erreicht, mit seiner Seele resoniert wie noch nie etwas anderes zuvor.

Luciel vernahm es auch jetzt: das Kribbeln in den Fingerspitzen, Feuer brodelnd in seinem Blut – stärker denn je, als wolle es ausbrechen, sich mit den Sündern vermischen.

„Du widersetzt dich deinem Gott", mahnte Dyan und verharrte in der Luft, "Bist du dir dessen bewusst? Abryss' Zorn ist nicht zu unterschätzen. Sieh dir Hapi an."

„Er ist nicht mein Gott", zischte Luciel.

Luciels Gott sollte gütig sein, wohlwollend und großzügig. Keine Idee, kein falsches Phantom, dessen Handeln von Gier und Stolz bestimmt war. Hapi hatte Recht behalten. Nur ein Wesen wie Abryss konnte verdorbene Seelen schaffen. Sein gesamtes Leben lang hatte er eine Maske geliebt und nun, da er direkt in die Sonne geblickt hatte, hatte ihm die Wahrheit die Augen verbrannt.

„Große Worte für einen noch-Sterblichen."

Hapi drehte sich zu ihm um und Luciel wollte nichts lieber, als ihm die schwarzen Augen auszustechen und sie wie Trophäen um seinen Hals zu tra-

Woher kamen diese Gedanken?

Er schluckte, fing sich in der Realität, "Dieser noch-Sterbliche ist die einzige Möglichkeit, deine Schwester zu beschützen. Zolle mir mehr Respekt, Hapi."

Dyan stürmte durch die Luft, stand Seo in Geschwindigkeit in nichts nach. Wie ein Blitz schoss er über das Schlachtfeld, ließ Meilen unter seinen Hufen verschwinden und erreichte die Mitte der Steppe in Windeseile. Gold regnete auf die Soldaten nieder. Flocken trafen die Kämpfer, die augenblicklich erstarrten. Wie damals in Zephyr...

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt