Kapitel Sechsundzwanzig

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„Du siehst furchtbar aus."

Phobos musterte die Erscheinung seines jüngsten Bruders: Die eingefallenen Wangen, die finsteren Schatten unter seinen Augen, das verräterische Knacken, wenn er seine Schultern kreisen ließ. Luciel hatte zwar groß angekündigt aus Protest mit seiner Frau im Verließ zu nächtigen, doch hatten weder die Zwillinge noch der Hofstaat ihm Glauben geschenkt. Wie? Eben dieser verwöhnte Prinz, der sein Essen verweigerte, wenn es nicht die richtige Temperatur hatte? Der jedes seiner Gewänder maßangefertigt verlangte, weil er wohl kaum das Gefühl von losem Stoff auf seiner empfindlichen Haut ertrug? Dieser Prinz wollte freiwillig im Kerker leben? Sein luxuriöses Dasein einschränken, um seine kranke Gemahlin zu umsorgen?

Luciel konnte ihre Zweifel nur belachen! Im Schlamm zu schlafen war nichts mehr für ihn! Aurin hatte ihn mit harter Liebe gestählert.

Auch wenn er zugeben musste, dass nichts das Gefühl seiner zephyrischen Kleidung ersetzen konnte.

„Die Kerker sind undicht. Von überall läuft Wasser herein und den Wind hält das marode Mauerwerk schon lange nicht mehr auf", meckerte Luciel und streckte sich der Sonne entgegen, "Dass der Palast noch nicht zusammengebrochen ist, muss ein Geschenk der Götter sein."

Die Zwillinge kreuzten zeitgleich die Arme vor der Brust.

„Die Götter? Seit wann gibt es in deiner Welt mehrere Gottheiten?", fragte Phobos, die Augenbrauen in Skepsis gehoben.

Seit er Mahlzeiten mit dem Tod geteilt hatte? Seit er lernen musste, dass Abryss seine Wünsche nicht erfüllen würde?

Luciel ließ die Bemerkung an sich abprallen und sammelte gierig weiter Sonnenlicht, bis er wieder in den Kerker hinabsteigen würde. Er war seines Vaters Sohn, hatte nicht nur Stärke und Aussehen geerbt, sondern ebenfalls die unendliche Sturheit. Eher würde Luciel an Nährstoffmangel zugrunde gehen als seinem Vater die Genugtuung zu erfüllen.

Der Übungsplatz hinter dem Schloss bebte vor Geschehen. Kies flog durch die Luft mit jeder Formation, die von den Soldaten eingenommen wurde. Ihre Rüstungen glänzten im Licht, die Waffen geschliffen und einsatzbereit. Witzig. Hatten sie nicht stets mit hölzernen Schwertern und Speeren trainiert? Wurden die Regeln in seiner Abwesenheit geändert? Der jüngste Prinz kam am Rand der Wiese, kurz vor dem Schotterplatz, zum Stehen und nahm die Szenerie ein. Die Kasernen befanden sich südlich vom Palast sogar noch außerhalb der Palaststadt. Wieso wurden hier Soldaten ausgebildet?

Deimos beobachtete Luciel, spielte mit seinem Ohrring, drehte den Edelstein zwischen seinen Fingern umher. Gold leuchtete der Schmuck gleich dem Schimmer von Glitzer auf seinem Gesicht.

„Gedenkst du auf diese Weise weiterzumachen? Du weißt, dass Vaters Wille eisern ist", sprach er.

Luciel verschränkte die Arme vor der Brust, den Rücken weiterhin seinen Brüdern zugewandt. Weiter in der Ferne übte eine Gruppe Bogenschießen, daneben wurden Kanonen poliert. Selbst die sonst verlassene, in die Jahre gekommene, Schmiede spuckte schwarzen Rauch aus.

Dein Vater will einen Krieg führen. Hapis Warnung peitschte ihn aus seiner Trance.

„Im Kampf zweier Narren gibt es nur einen Ausweg."

Dein Vater will einen Krieg führen. Die Worte gewannen an Gewicht je länger Luciel sie überdachte.

Dein Vater will einen Krieg führen. Wie ein Mantra sagte er sich den Satz immer und immer und immer wieder auf, in der Hoffnung, sie würden ihre Bedeutung verlieren. Doch ganz im Gegenteil. Sie wogen immer schwerer auf seiner Brust.

„Und der wäre?", schmunzelte Phobos, "Erleuchte uns demütige Generäle mit deinen militärischen Weisheiten, mein Bruder."

Zwei Soldaten schleppten einen Karren mit Kanonenkugeln und begannen sie auf Schäden zu untersuchen. Eine Kameradin hakte auf einer Liste das Inventar ab. Ein Schauer überkam Luciel.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt