Kapitel Sechsundfünfzig

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Vina hielt Luciels Herz fest in den Händen. Es war jedoch mehr als ein Körperteil.
Es war ein Versprechen, ein Geschenk.

Ich werde zurückkehren.

Sie wusste sofort, was sie mit diesem Schatz anstellen würde. Nie eine so begnadete Schöpferin wie Abryss gewesen, tat wie, was sie am besten konnte. Hoch in den Wolken, auf dem höchsten Gipfel des Götterreiches fand sie einen Fleck Erde. Mit Händen grub sie eine Kuhle und bettete Luciels Herz in den nährhaften Boden. Der Himmel beobachtete sie bei ihrem Vorhaben, ließ Stürme und Bäche regnen, bis ein kleiner Keim aus dem Boden trieb. Ein mächtiger Baum, mit Blättern aus goldenem Sternenstaub und Ästen dunkler als die Nacht, wuchs aus Luciels Herz. Monate verbrachte die Göttin im Schatten der Trauerweide und las ihr Geschichten aus aller Welt vor, trug Lieder in allen Sprachen vor und spielte niegehörte Melodien auf ihrer Zither. Das Spielen hatte sie nie verlernt!

Sie hütete die Weide mit all ihrer Kraft, verbarg sie hinter dichtem Nebel, auf dass Abryss sie niemals finden würde. Was auch immer aus der Weide entstehen würde, so ahnte sie, würde die Sonne niemals für gut befinden.

Was war das Licht der Sonne gemessen mit Milliarden von Sternen?

Die Weide brauchte nicht viel. Wasser und ermutigende Worte. Den Rest zog sich der Baum aus dem heiligen Boden oder nährte sich an Vinas milden Nächten.

Im kommenden Frühling war es dann so weit gewesen, endlich! Eine Knospe, dick und rund, trieb aus einem der Äste. Wie der Baum selbst war sie besonders! Es bedurfte zwei Hände, um sie gänzlich zu umschließen und Vina tat dies oft.

„Was glaubst du wird aus dem Baum blühen?", fragte Hapi sie im April.

Ein Gott würde geboren werden!

Wenige Monate später geschah es: Die Knospe öffnete sich und ein Gott purzelte in Vinas Arme. Ein Wesen der Sterne, wie sie alle es waren.

Kleine Flügel flatterten aufgeregt und hoben das Kind in die Lüfte. Seine Arme und Beine trugen die Farbe der Nacht. Als hätte er in Vinas Farbtopf gegriffen! Sternenstaub glitzerte auf der dunklen Haut und sein Oberkörper und Gesicht weiß wie Schnee. Die Ansätze von Hörnern stachen aus der blassen Stirn und ein langer dünner Schweif mit einem spitzen Stachel wickelte sich um Vinas Arm, als sie das Kind aus der Luft fischte. Ein Gott mit dem Antlitz eines kleinen Teufels!

„Was wirst du mit ihm tun?", wollte Dyan im Juli von ihr wissen.

Der Hirsch verzog das Gesicht bei dem Anblick der giftgrünen Augen des Kindes und seinen spitzen Öhrchen.

„Ich werde ihn als mein Eigen großziehen, diesen jungen Gott der Liebe."

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt