Kapitel Neun

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Die Dunkelheit war bereits über Aurin hereingebrochen, als Luciel den Teil der Sternenhalle erreichte, welchen er normalerweise meiden konnte. Der im Osten gelegene Flügel, der den Geschwistern vorbehalten war und von nun an auch sein neues unfreiwilliges Zuhause war. Eine sanfte, dunkle Melodie schwirrte ihm entgegen, als er mit stillen Schritten das Zimmer betrat. Verglichen mit seinem Zimmer im Gästeflügel des Anwesens, erstreckte sich dieser Raum mindestens dreimal so weit. Die Fenster waren weit geöffnet, das Prasseln des Regens erreichte seine Ohren. Der Sonnenschein war dem Niederschlag am Nachtmittag gewichen, doch hatte das die Gästegesellschaft wenig beim Feiern gestört. Die letzten Anwesenden hatte er vor nicht zu kurzer Zeit verabschieden dürfen.

„Ich dachte, Ihr kommt nicht mehr."

Vinadea saß vor dem größten Fenster. Ihre Hände flogen gekonnt über die Saiten einer Zither und entlockten dem Instrument einen Ton nach dem nächsten. Das Hochzeitsgewand hatte sie zugunsten eines einfachen Unterkleids gewechselt. Ihr schwarzes Haar fiel offen über ihre Schultern hinab. Ein Wasserfall aus Tinte. Der Schmuck war ebenfalls verschwunden.

„Verzeiht mir die Verspätung."

Luciel sah umher. An den Seiten standen Kommoden und Regale, beschmückt mit Porzellanvasen und Skulpturen in Farben und Formen, die er bislang noch nie erblickt hatte. Kalligrafien und Landschaftsmalereien hingen von den Wänden, Schriftrollen schauten aus Schränken und Körben hinaus. Bemalte Laternen zierten die Decke und spendeten neben den unzähligen metallenen Kerzenständern warmes Licht. Links und rechts vom Bett gingen weitere Gänge vom Zimmer ab – Ankleide und Badezimmer, vermutete er. Die wenigen Gegenstände, die er von Zuhause mitgebracht hatte, mussten sich hier auch irgendwo befinden. Die Holzdielen knacksten, als er näher an Vinadea herantrat.

„Was spielt Ihr?"

Er beäugte das Instrument. Es war aus Holz gefertigt, schimmerte mit braunem Lack und nahm die gesamte Länge des Tisches ein. Weiß blühende Äste waren auf die Zither gemalt. Die Melodie, tragisch und langsam, erfasste sein Herz wie eine liebevolle Umarmung. Es gab keine Hektik, keine wilden Kontraste und auch wenn kein Gesang das Stück begleitete, so konnte er mit Sicherheit behaupten, selten ein mitreißenderes Lied vernommen zu haben. Wahre Kunst benötigte keine Worte, um verstanden zu werden.

Weinender Mond lautet der Name", erklärte sie und schaute dabei keinen Moment vom Tisch auf, "Ihr müsst nicht stehen, Eure Hoheit."

Ihre Finger waren lang, zart und dennoch bändigten sie das Instrument unter ihr mit gewaltiger Kraft. Unsicher, wo genau er Platz nehmen durfte, wählte er den kleinen Tisch auf der gegenüberliegenden Seite von Vinadea aus. Von hier aus erschien es ihm am angenehmsten. Qualm stieg aus dem Duftbrenner vor ihm auf. Er griff nach einem Becher, goss sich Tee ein und sah ab und an verstohlen zu ihr hinüber. Sie waren kein echtes Paar. Niemand würde von ihnen verlangen, eine richtige Hochzeitsnacht zu verbringen, oder? Kurz nippte er an der Tasse, verzog das Gesicht.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt