Kapitel Siebenundvierzig

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Abryss war mit dem ersten Sonnenstrahl wieder zur Lichtung zurückgekehrt. Niemand hatte Fragen nach seinem Aufenthalt gestellt; nicht Toji, nicht Seo, nicht Dyan und nicht einmal Hapi verlor eine abfällige Bemerkung. Die blutgetränkten Gewänder, die dunklen Flecken in seinem weißen Haar und der faule Geruch der Unterwelt, die der Sonnengott verströmte, verrieten der Gruppe alles, was sie wissen wollten.

Auch er hatte Dämonen bekämpft.

Rot fraß sich in Tojis Bluse, als Abryss sie am Arm berührte, "Dea muss noch heute erwachen."

Die Göttin ließ ihren Stift sinken, deutete auf den unberührten Marmorblock vor sich und wischte den Schweiß von ihrer Stirn. Wie stellt Ihr Euch das bitte vor, schrie ihr Blick, doch bewegten sich ihre Lippen keinen Millimeter. Sie hatte gestern Nacht erst den passenden Stein gefunden. Vinas neuer Körper war kein Unterfangen, welches halbherzig durchgezogen werden konnte! Mit Geduld und Gefühl hatte sie gemeinsam mit Hapi den Wald aus Rohlingen durchforstet, jeden einzelnen Block berührt und befragt bis sie kurz vor Abryss' Ankunft den einen zurück zum Haus gebracht hatten. Normalweise – wären sie alle Menschen wie Luciel gewesen – hätte es wohl mehrere Stunden gebraucht, um den Felsklotz zu bewegen. Doch galten die Regeln der Sterblichen nicht für Seo. Ihre Krallen waren wie in ein feuchtes Stück Butter geglitten und hatten mit Flügelantrieb den Marmor auf die Lichtung fallen lassen.

Hapi stand im Kraterloch und blickte zur Sonne hinauf.

„Sie ist noch nicht genesen", wand er ein.

Es war keine Beobachtung, sondern ein Ultimatum.

„Wir können nicht länger warten," Abryss trat an den Krater heran, "sonst wird die Unterwelt den Kontinent zerstören, bevor die zephyrische Armee es kann."

Die Sonne streifte ihr blutgetränktes Oberteil von sich und warf es in den Graben, dem Tod vor die Füße. Eine abfällige Geste, bei der selbst Luciel rot anlief. Die Luft knisterte vor Aufregung im Angesicht eines Kampfes zwischen den Göttern. Hapi hob das Stoffstück auf und zerknüllte es in den Händen, färbte seine Finger Karmesin.

„Du willst riskieren, dass wir sie wieder für Jahrhunderte verlieren?", fragte der Tod, "Wenn du sie jetzt weckst, dann-"

Abryss unterbrach, "Es gibt größere Belange als deine persönlichen Gefühle."

Der Tod sprang aus dem Loch, landete direkt vor dem Sonnengott. Luciel, die Eskalation ahnend, ließ von seiner Aufgabe ab, die Toji ihm erteilt hatte, legte Meißel und Putzlappen nieder und stellte sich beschützend vor den Marmorblock.

„Nichts ist größer als du und Vina. Ihr, nein, wir haben diese Welt geschaffen."

Wolken verdunkelten das grelle Feuer am Himmel, als die Götter stritten. Regen peitschte auf sie nieder, als wollten die Wolken sie aufhalten. Selbst der Wettergott erwachte aus seinem Schlummer, um der beiden Kampf beizuwohnen. Dicke Tropfen rannen Abryss' nacktem Oberkörper hinab, wuschen das Blut hinfort, doch verblieb der niedergeschlagene Ausdruck auf seinen Zügen.

„Was soll ich nach deinem Ermessen tun, Todesgott? Dea nach ihrer Meinung fragen?"

Knochen knackten unter Hapis Füßen und schwarze Flammen leckten seine Arme hinauf. In der rechten Hand das Oberteil noch immer fest umgriffen, schlug er gegen Abryss' Brust, drückte den Stoff tief in den Rippenkorb – die ein oder andere gab nach, um sich im nächsten Augenblick wieder zusammenzufügen. Unantastbar war er, dieser Sonnengott! Luciel wollte gerne fliehen, Welten zwischen sich und ihnen wissen, doch fürchtete er die Wut der beiden Götter auf sich zu ziehen, würde sich seine Brust zu wild heben unter dem aufgeregten Herzschlag.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt