Kapitel Sechszehn

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Eins mit der Welt.

Gezeugt aus nasser Erde und salzigem Regen. Der Boden gebar ein Wesen mit bestialischem Antlitz. Schlammig und feucht klebte die Kleidung an den königlichen Gliedern. Mit der ängstlichen Hand wischte er immer wieder die Tränen vom Gesicht, hinterließ eine Spur vom Dreck an ihrer Stelle. Sie flossen jedoch stetig weiter: ungehalten, unberechenbar, unschuldig. Stück für Stück schälte er sich aus dem Land und wuchs dem Himmel entgegen. Der Sturm hatte die Reise fortgesetzt, doch waren seine Spuren für immer wie ein Mahnmal auf dieser traurigen Seele eingebrannt. Die düsterste Nacht umschloss ihn, verteilte bittere Küsse auf seiner geschundenen Haut. Sieh dich nur an, schien sie zu sagen, Wer gibt dir das Recht dich der Trauer hinzugeben? Ihr Blut klebt auch an deinen Händen.

Plötzlich kamen sie. Aus den Tiefen des Waldes, von Ästen und Baumkronen, über die Wiesen hinweg strömten Tausende von Glühwürmchen herbei. Wie ein zweiter Sternenhimmel schimmerten sie auf Erden, schwirrten durch das Dorf und verdrängten die Finsternis.

„Weine nicht, Luciel."

Ihre Stimmen schallten von überall. Er schloss die Augen, als eine neue Welle der Schuld über ihn rollte. Liebevoll strichen Finger über seine Wange, wischten die Spuren des Kummers hinfort. Die Berührung war fremd, doch füllte sie ihn zugleich mit so viel Zuneigung und Vertrautheit. Es war der vermisste Freund, der gütige Vater. Nichts hatte jemals vor diesem Moment existiert. Luciel war nun wiedergeboren.

„Wer seid Ihr?"

Ein Mann trat aus den Leuchtkäfern heraus. Sein Antlitz triefte vor jugendlicher Schönheit. Genauso alt wie Luciel und Hapi musste er gewesen sein, doch hatte er die Haltung eines Königs, den Ausdruck eines Weisen. Ein Glühwürmchen setzte sich auf seine gerade Nase, warf einen Schatten über die geschwungenen Lippen. Mit einem Finger schickte er das Tierchen vorsichtig hinfort. Seine Augen loderten goldbraun. Wie Flammen, dachte Luciel, wunderschön. Doch war sein Blick zärtlich, beinahe schon mitleidig wie er auf ihn hinunterblickte. Die weißen Gewänder glichen der Farbe seines langen seidigen Haars. Nur ein einzelner Fleck Schlamm prangte am Ärmel, mit welchem er den schmutzigen Prinzen soeben berührt hatte. Scham kam in ihm auf. Er starrte auf den Boden. Frisches Gras sprießte unter ihren Füßen. Ihre grünen Köpfe kämpften sich aus dem Schlamm. Der Wald bebte vor Energie. Die Bäume schüttelten sich kräftig, die Blätter leuchteten grüner. Bunte Blüten trieben aus den Ästen. Die Kälte war verschwunden und der Boden roch wie ein neuer Tag.

„Du weißt bereits, wer ich bin. Viel wichtiger jedoch ist, wer du bist, junger Luciel..." Sanft umgriff er die Schulter des Prinzen, störte sich nicht am Dreck, "...und wer du sein möchtest."

Allgegenwärtig und allwissend. Endlos. Die Sonne und das Feuer. Der Lichtbringer. Gott des Anfangs und Gründer seines Königreiches. Luciels und der Schöpfer aller Menschen. Abryss.

War dies ein Traum? Ein Wahn? War er der Kälte zum Opfer gefallen und hatte die Stufen zum Himmel erklommen?

„Ist dies ein Traum?"

Abryss lächelte und die ersten Sonnenstrahlen barsten über den Horizont, "Das Reich der Träume ist gewiss nichts, das ich jemals kontrollieren könnte."

Dea, er spricht also von Dea. Geschah dies wirklich? Luciels Knie gaben nach und er sank ehrfürchtig zu Boden. Die Spuren des heiligen Feuers in ihm loderten auf so nahe vor ihrem Ursprung.

„Mein Schöpfer, ich...-" Die Worte wollten sich nicht auf seiner Zunge formen. Was sagte man einem Gott? Schon oft hatte er sich diesen Moment vorgestellt, dem Sonnengott gegenüberzustehen, doch nun, wo dies tatsächlich Realität geworden war, zitterte er wie ein junges Reh und brachte keinen Ton hervor. Wie Tausende Regentropfen prasselte der Herzschlag gegen Abryss' Hand, als er sie tröstend auf Luciels Brust legte.

„Ich kenne dein Herz, also quäle dich nicht mit Worten." Er half ihm auf, "Begleite mich ein Stück."

Sein Körper unterwarf sich dem Schöpfer. Das Bedürfnis zu sprechen war dem Verlangen nach Zuhören gewichen. Jede Silbe, jede Weisheit wollte er aufsaugen und verinnerlichen. Fragen erschienen überflüssig, wenn die Welt selbst sich vor ihm offenbarte. Ein Schleier legte sich um den Prinzen, umhüllte ihn, wog ihn, heilte die Wunden der Vergangenheit und jene der Zukunft. Wie die warme Umarmung seiner Mutter. Wie sehr er sich nach ihr sehnte... Noch einmal diese weiche Hand so zu halten, wie sein Schöpfer es nun tat. Oh, was Luciel bereit war zu opfern!

„Deine Fragen sollen bald beantwortet werden, doch ist der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen", sprach der Gott von überall; aus dem Flügelschlag der Glühwürmer, dem Säuseln der Wellen und den ersten Sonnenstrahlen.

Der Wald sang Hohelieder, begleitete freudig den Gott. Neue junge Bäume wuchsen aus den Fußabdrücken im Schlamm. Ein Teppich von Wildblumen folgte ihren Schritten. Die Leuchtkäfer schwirrten umher, einige ließen sich auf Luciels Schultern, dem Kopf oder den Armen nieder. Die Baumkronen neigten sich in Abryss' Richtung, verneigten sich vor ihrem Meister. Der Prinz wollte es ihnen beinahe gleichtun. Es erfüllte ihn mit so viel Freude, ihm einfach nur aufmerksam zu lauschen. Er würde keine Fragen stellen, nein, er wollte gut sein, seinen Schöpfer nicht enttäuschen oder (Götter bewahrt) ihn erzürnen!

„Bald wird eine wichtige Entscheidung auf dich zukommen. Was von heute an geschieht, soll dir dabei helfen, die richtige Wahl zu treffen."

Ein Hirsch bahnte sich von der Seite aus dem Dickicht und schließ sich der Gruppe an. Wertvoller als all die Goldschätze Zephyrs schimmerte das Fell des majestätischen Tieres. Wie Äste wuchsen die Hörner aus dem Schädel und schufen Ruhestätten für die müden Glühwürmchen. Er blickte Luciel direkt an, flatterte mit den Ohren und stieß sanft mit dem Kopf gegen seinen Arm. Wie eine Begrüßung. Wie ist es dir ergangen, alter Freund? Hast du mich vermisst? Zögerlich langte Luciel mit seiner freien Hand nach oben und streichelte über das Fell. Vielleicht hätte er unter normalen Umständen nun Angst verspürt, sich einem solch riesigen Tier zu nähern, doch brachte Abryss' Gesellschaft ihm einen Mut, den er bislang von sich selbst nicht gekannt hatte.

„Ich habe viele Fehler begangen und diese Schuld muss ich auf Ewig tragen. Dennoch können einige von ihnen, wenn auch nicht beseitigt, wiedergutgemacht werden", fuhr der Sonnengott fort.

Er zog eine Kastanie aus seinem Ärmel und warf sie dem Hirsch zu. Mit dem Maul fing er es in der Luft auf. Ein Knackgeräusch erfüllte die Stille.

Dies hätten meine Finger sein können, dachte Luciel und zog seinen Arm zurück. Abryss führte sie bergauf in die Richtung der Sternenhalle. Nicht weit von hier befand sich das Haus im Wald, wo Vina wohl bald erwachen würde, um den Tag zu beginnen. Das junge Tageslicht traf auf die schwarz-geschuppte Haut eines Drachen, der friedlich auf dem Waldboden ruhte. Die gelben Augen funkelten Luciel neugierig entgegen. Sein Herz machte einen Satz, als er das Wesen erblickte. Spätestens jetzt hätte er gerne geglaubt, dass all dies nur das Produkt seiner eigenen Traumwelt gewesen war. Drachen existierten nicht jenseits von Geschichten! Welch Überraschung, dass ausgerechnet Abryss in Begleitung eines solchen Wesens erschien! Und welch Ehre Luciel zu Teil wurde, diese Szene bezeugen zu dürfen. Wie der lange, schlangenartige Körper sich am Boden entlangwand, sich scheinbar entknotete und die Beine genüsslich ausstreckte. In seiner vollkommenen Erscheinung bräuchte Luciel wohl mehr als zwanzig Schritte, um die Länge des Drachen abzulaufen.

„Unsere Wege trennen sich hier, jedoch liegt unser nächstes Wiedersehen nicht fern." Abryss umgriff brüderlich beide Schultern des Prinzen und nahm amüsiert seine schlammige Form ein, "Dea und ich legen all unsere Hoffnungen in dich, Luciel. Enttäusche uns nicht."

Mit diesen Worten wand er sich ab, sprang hoch in die Luft und kam zwischen den Hörnern zum Sitzen. Der Drache japste und schlängelte sich mit dem Wind das Himmelszelt hinauf. Zurück blieb der Hirsch, der Luciel ein letztes Mal ansah und daraufhin auch den Horizont erklomm. Mit jedem Schritt rieselten Goldflocken von den Hufen auf die Welt nieder. Der Prinz sah ihnen nach und all die tief in ihm begrabenen Fragen drohten plötzlich wie ein Damm loszubrechen, doch war der Gott bereits verschwunden und Luciels Trance durchbrochen.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt