Kapitel Vierunddreißig

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Ihre Zeit war gekommen. Hier auf einem leeren Feld irgendwo jenseits des Palasts würde Vina ihren letzten Herzschlag verbringen. In einem fremden Land und umgeben von Feinden, die ihrem Ende sehnsüchtig entgegenfieberten. Reihen um Reihen türmten sich ihre hasserfüllten Fratzen um sie herum auf, ragten bis zu den Wolken hinauf, ihre spitzen Zungen und weißen Fangzähne versteckt hinter Fächern und Geheimnis-schützenden Händen. Stets ergötzend am Leid der anderen, der schwächeren, der unglücklicheren.

Der Wind trug eine sanfte Brise durch das Amphitheater. Beinahe tröstend küsste er Vinas Gesicht, wirbelte den Staub unter ihren Knien auf und flüsterte aufmunternde Worte in ihre Ohren. Das Schicksal irrt niemals... Soldaten umschlossen die Gefangene in einem dichten Kreis. Egal in welche Richtung sie blickte, trafen Speere ihr Sichtfeld – ihre Spitzen auf sie gerichtet. Als wäre sie ein Tier, eine Gefahr. Was war ihr Verbrechen? Zu glauben? Wie konnte man den einen Gott verehren und die Existenz der anderen verneinen, wenn Abryss und Dea doch ohneeinander nicht leben konnten!

Kies bohrte sich in ihre Knie, hinterließen Mulden in ihrer Haut, doch erdreistete sich Vina keiner Bewegung und verblieb in ihrer Position. Luciel befand sich irgendwo außerhalb des Soldatenschirms; seine lauten Proteste ließen sich schwer überhören. Auch Hapi war hier. Vina spürte seine Anwesenheit.

„Dann werden wir nun beginnen."

Eine Seele, löchrig und verschrumpelt, stinkend und fahl, grün, grau und schwarz, gefangen in dem Körper eines Königs, der über die verabscheuende Mengen regierte. Vina hörte die Rufe der anderen Seelen: Die Welt wäre ein besserer Ort ohne ihn.

Hoch oben, höher noch als jede Statue des Sonnengottes reichen konnte, fläzte der Monarch auf seinem Thron – wie ein Gott. Sein Dunstkreis schien diese Ironie nicht zu erkennen. Phobos und Deimos, Furcht und Schrecken, saßen wie gezähmte Höllenhunde an der Seite ihres Königs. Brave Söhne, ruhmreiche Generäle, Anführer eines kommenden Krieges, in welchen sie nicht ziehen wollten. Sie würden Schwerter gegen Unschuldige erheben, wenn ihr eigentlicher Feind in diesem Augenblick in Reichweite war. Feige waren sie, diese Brüder. Verbargen sich hinter Ausreden und Warten und Gehorchen und Ablenken und Abwimmeln, nur weil sie sich scheuten, ihren eigenen Vater zu töten. Nichtstun war beinahe so grausam wie das Verbrechen selbst.

Aber, was nützte eine solche Erkenntnis, wenn Vina bald kein Teil dieser Welt mehr sein würde?

„Es wird keine Anhörung geben."

Hapis Verhalten wuchs seit dem Tag seiner Ankunft in Zephyr auffälliger, außerordentlicher. Die ellenlange Liste seiner Geheimnisse war um ein nächstes erweitert worden. Er wusste etwas, das sie nicht tat. Vina hatte seine Blicke bemerkt, wie er jedes ihrer Worte, jede Bewegung, aufmerksam beobachtet und abgewogen hatte. Es musste etwas mit ihren Erinnerungen zutun haben. Nur dann wurde er so kryptisch, so rätselhaft, so unlesbar, wenn doch sonst seine Emotionen ein offenes Buch für sie gewesen waren.

„Was soll das bedeuten, Hapidea von Aurin?", rief der König von seinem Thron herunter, "Soll ich Eure Schwester und ihr ungeborenes Kind direkt zum Galgen schicken ohne die Möglichkeit auf Rechtfertigung?"

Sollte sie sich erklären? Dea verleugnen? Sie alle, Luciel wusste es genauso wie Hapi und sie selbst es wussten – Vina würde als Deas Dienerin sterben. Wozu das Unvermeidbare herauszögern, nur um in mehr Erniedrigung zu baden? Ihr Tod, Hapi, war hier. Sie hatte nichts zu fürchten. Er wusste, was er tat, sah die Stränge des Schicksals anders als sie.

„Ungeborenes Kind...", lachte der Gott herzlich, "Wozu warten? Führen wir die Todesstrafe gleich hier durch!"

Zwar sah sie nichts außer die Soldatenformation, doch war sie nicht sicher, ob es ihr helfen würde. Mit wie viel Abscheu ihr Bruder von ihr sprach, ließ selbst ihr Herz schwerer werden. Hapi liebte Spielen, natürlich würde es sich nicht nehmen lassen, auch Vinas Tod mit Dramatik zu schmücken. Ein Schelm durch und durch. Wie sollte sie ihm jemals böse sein, wenn sie nichts als Verständnis für ihn aufbringen konnte? Immerhin kannte niemand Hapi besser als sie!

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt