Türen schlugen zu, Schritte hasteten den Flur entlang. Irgendwo in der Ferne rief die Dienerin ihm verzweifelt nach, doch war Luciel bereits verschwunden. Raus, an die Luft. Fort, weg von diesem Ort. Schnell, bevor sie ihn findet. Der Regen peitschte ihm entgegen, kaum hatte er den Innenhof betreten. Der Himmel hatte sich geöffnet, die heiligen Pforten aufgetan, und die Wolken entleerten ihre salzigen Tränen über Aurin. Ein Donner schlug dem Zorn der Götter gleich, Blitze zuckten über den dunklen Horizont. Der Schall hallte noch in ihm wider. Ein Windspiel jaulte. Luciel wollte schreien, laut und ungehalten, wie er es noch nie zuvor gewagt hatte. Die Himmelswesen würden erschrecken, sich in Schande wiegen und goldene Flüche fallen lassen, würden sie bezeugen, wie ungeniert dieser Prinz wüten konnte.
Als wäre er einer von ihnen. Einer, dem die Welt gehörte.
Einer, der den Himmel erklommen hatte.
„Die Anfälle häufen sich. Mittlerweile liegen zwischen ihnen nicht mehr als wenige Wochen."
Hapi. Ohne es zu beabsichtigen war er wieder heimlicher Zeuge seiner Gespräche geworden. Das Fenster war geschlossen, jedoch brannten sich mit dem Licht zwei Silhouetten durch das hauchdünne Material. Der anderen Person gehörte eine Stimme, die der Prinz keinem Gesicht zuordnen konnte. Und schon gar keinem Umriss. Der Schatten saß am Tisch und stimmte die Zither vor sich, während Hapi ihm gegenüberstand, auf die Stuhllehne gestützt.
„Und Dea ist nicht sie selbst?"
Der Fremde klang warm, hell. Wie ein vermisster Freund, ein gütiger Vater. Weich wie der Duft der ersten Blüten im Frühling. Wie Sommerregen oder die bunten Baumkronen im Herbst. Und wenn die ersten Schneeflocken des Jahres den Wolken entwichen und auf das Land niederrieselten – ruhig und friedlich – dann würde Luciel von nun an jenen Moment zurückdenken. Auch der Sturm setzte aus, sobald er das Wort erhob. Ein gänzlicher Unterschied zu Hapi, der seine Gedanken sonst frech in die Welt peitschte. Jedoch nicht an diesem Abend.
"Es ist fast wie...früher", sprach er mit gebrochener Stimme.
Das Früher vor Vinas plötzlicher Krankheit? Vor dem Verlust ihrer Erinnerungen? Kaum fand er die Lösung zu einem Rätsel, kamen ein Dutzend neuer Fragen in ihm auf. Wer war die wahre Vina? Die Frau, die er geheiratet hatte oder die, welche sie vor dem Vorfall gewesen war? Aus welchem Grund sammelte Hapi Geister um sich? Wie viel Macht versteckte er noch? Was war Vinas Rolle in diesem Spiel und auch wenn ihn der Gedanke daran quälte, musste er sich die Frage stellen, ob sein Vater wirklich all diese Gräueltaten selbst begangen hatte.
Das Dorf. Dort würde er Beweise finden.
Der Regen nahm zu, hatte ihn mittlerweile vollständig durchnässt, doch war Luciels Entschluss eisern. Es brauchte mehr als einen Sturm, um den Prinzen davon abzubringen. Er sehnte sich nach Antworten und das mehr denn je. Bis zum verabredeten Vollmond dauerte es nicht mehr lange, die Zeit rannte ihm davon. Und von Tag zu Tag ließ Hapi sich neue Dinge einfallen, mit denen er Luciel bei Beschäftigung hielt.
Mit jedem Schritt hinterließ er Pfützen auf dem Boden der Sternenhalle, als er den Innenhof hinter sich ließ und die Abkürzung nach draußen nahm. Sein Haar, nass und strähnig, hing schwer in seine Augen und jeder Windzug erschütterte ihn bis ins Mark. Entweder die Kälte oder das Adrenalin – Luciel konnte es nicht mit Sicherheit bestimmen - brachte seine Hände zum Zittern und ließ ihn trotz des Wetters schwitzen. Sein eigener Körper litt bereits unter seinem verwirrten Verstand. Vielleicht war es auch doch nur der Vorbote des Fiebers, welchem er demnächst erlegen könnte. Das Wasser lief in Rinnsalen den Hügel hinunter, strömte mit dem Prinzen mit. Er rannte den Weg zum Dorf entlang, sprang über Äste und trat in Regenlachen. Jeder schwere Atemzug glich Feuer, welches er aus den gleißenden Lungen spie. Keine Wachen, keine Bediensteten – niemand kreuzte seinen Weg. Die letzten Laternen innerhalb der Palastmauern rasselten im Wind, drohten jeden Moment von ihren eisernen Haken zu fallen. Ein Blitz jagte über das Himmelszelt und erleuchtete den Weg durch das enge Waldstück. Der Donner folgte kurz darauf und ließ den Boden um ihn herum beben. Es war, als stünde er direkt unter dem Sturm. Das Geräusch war betäubend laut und hinterließ ein unangenehmes Klingeln in seinen Ohren zurück, welches ihn noch die nächsten Tage begleiten würde. Blätter wirbelten in Strudeln auf. In der Ferne erstreckte sich der Holzwall, der das namenlose Dorf eingrenzte. Die Laternen am Tor waren umgefallen und erloschen. Die Strohdächer flatterten mit jedem Windzug, die steinernen Gewichte schon lange vom Sturm hinfort getragen.
Brennender Hals, schmerzende Füße, protestierende Knie – Luciels Körper flehte nach einer Pause. Seine Sicht verschwamm, als er den Zaun passierte und zwischen den Hütten zum Stehen kam – in vollständiger Dunkelheit.
Keine Lampe, kein Feuer, nicht einmal eine einzelne Kerze erhellte das Dorf. Wo er Gelächter, heitere Gespräche oder wenigstens ein einsames Flüstern in der Nacht erwartet hatte, traf ihn lediglich eine grässliche Erkenntnis: Luciel war allein.
Ein Dutzend Häuser und nicht eine Menschenseele war daheim. Er stürzte sich auf die erste Hütte am Wegesrand. Scheinbar frisch gepflanzte Blumen zierten den Eingang, neben der Tür ruhte ein kleiner Gemüsegarten. Keine Pflanze schief, kein Unkraut zu viel. Hoffnungsvoll klopfte er gegen die hölzerne Pforte, irgendwo in ihm noch der leise Wunsch, ein müder Dorfbewohner würde ihn begrüßen. Doch die Tür war nicht einmal verschlossen und ohne Widerstand flog sie auf, um ihr leeres Innere zu offenbaren. Die Möbel waren ungenutzt, das Bett gemacht ohne eine einzige Falte im Stoff, als hätte nie jemand darin gelegen. Die Schränke leer, Bücher ohne Wörter in den Regalen und auf dem Tisch ein fertiges Gedeck, welches seit einer Ewigkeit auf ein Abendessen wartete, welches wohl nie kam. Niemand hatte jemals und würde auch wohl niemals an diesem Tisch sitzen. Die Zeit war stehengeblieben. Eingefroren. Kein Staub, kein Verschleiß, als wäre das Haus heute erst fertiggestellt worden. Der Ofen aus Lehm in der Kochnische war noch nicht einmal vollständig getrocknet. Die Spuren der Hände, klar ablesbar im Material.
Haus für Haus, Tür für Tür dieselbe Szene: Kamine, die noch nie etwas geheizt hatten. Badewannen, deren Inneres noch nie Wasser berührt hatte. Ungetragene neue Kleider, leere Ställe ohne Tiere und Lager ohne Vorräte. Ein Dutzend Mal die gleichen Möbel, Töpfe, Tassen, ja selbst die Stoffdecken hatte Luciel genauso bereits in der Sternenhalle gesehen! Ach, nicht nur gesehen! Er hätte schwören können, eben in genau diesen lavendelfarbenen Stoffen selbst geschlafen zu haben! Es war nicht sein erstes Mal im Dorf, gewiss nicht. Auf Spaziergängen war er bereits hier gewesen, hatte die spielenden Kinder, die nett grüßenden Alten mit eigenen Augen gesehen.
Die Kinder...ebenfalls Geister! Vom Todesgott geholt und voller Groll einer Welt gegenüber, die sie nicht gänzlich kennenlernen durften. Ihre Abscheu galt dem König, der sie im Stich gelassen hatte. Das Blut klebte an den Händen seines Vaters. Er hatte sie verraten. All diese unschuldigen Menschen!
Luciel stolperte durch den Regen und übergab sich in das nächste Beet. Seine Finger vergruben sich im Schlamm auf der Suche nach Halt, den seine Arme nicht länger bieten konnten. Der Regen prasselte auf ihn nieder, vermischte sich mit Dreck und streunenden Tränen und tropfte von seiner Nase. Der bittere Geschmack von Galle lag auf seiner Zunge. Niederbrennen wollte er diesen Ort, das Dorf in lodernden Flammenbergen ertränken. Das Feuer würde bis zum Himmel ragen, sodass selbst Abryss vor Neid erblasste. Es sollte Asche regnen, so viel, dass man glauben könnte, der Winter sei eingebrochen! Dieses Dorf, nein, die gesamte Insel waren nicht mehr als eine Bühne. Ein Schauplatz für Hapis groteskes Theaterstück mit Geistern als Darstellern und dem törichten Prinzen als Protagonist dieser göttlichen Komödie.
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasiaKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...