Kapitel Einundzwanzig

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Dichter Nebel zog über das Meer wie eine Vorwarnung. Die Welt der Lebenden lag hinter ihnen, entfernte sich stetig. Wie konnten die Soldaten ahnen, dass ihre Generäle sie auf eine direkte Überfahrt ins Jenseits schickten? Ein Horn ertönte in der Ferne, von einem der anderen Schiffe, und durchriss die morgendliche Idylle. Die metallene Spitze teilte das Wasser gnadenlos und färbte den Sonnenaufgang schwarz mit giftigem Qualm. Der Prinz stand an der Brüstung, zählte gebannt die Sekunden bis zu Ankunft. Der Wind an diesem Morgen war kalt, frostiger als er es sonst von Aurin gewohnt war. Die Wälder der Insel ragten höher, ihre Blätter mystischer und selbst der Tempelberg war dem Himmel näher als sonst. Er weiß, dass wir kommen. Luciel erschauderte, doch ließ ihn die Anspannung nicht aus ihren Fängen.

„Wir können jederzeit umkehren."

Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter, drückte sanft zu. Deimos. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ihn die Zwillinge von seinem Plan hatten abbringen wollen. Wenn er all die Versuche der Beschwichtigung seit gestern Abend zählte, gingen ihm rasch die Finger aus. Sein Griff um das Metallgerüst wurde fester. Wie unsinnig sein Plan war, brauchte man ihm nicht vor Augen führen. Es war ihm schmerzlich bewusst. Nicht nur hatte Hapi Gnade walten lassen, sodass Luciel Aurin unversehrt verlassen konnte; jetzt würde der undankbare Prinz das Wohlwollen des Todesgottes mit Füßen treten und in Begleitung zephyrischer Soldaten zurückkehren. Allein das war ausreichend, um den Zorn Hapis für den Rest seiner Tage auf sich zu ziehen, doch obendrein würde er Vina holen und in seine Heimat bringen.

Er sah zu, wie die Gischt am Schiff hinaufflog und wusste, dass er ein gezeichneter Mann war. Luciel war nicht ohne Grund der törichte Prinz, der dreiste Prinz und der unkontrollierbare Prinz – bald wäre er der tote Prinz. Vom Todesgott persönlich in die Unterwelt gezerrt und Dea zum Fraß vorgeworfen.

Diese Zukunftsaussicht ließ die Galle in seinem Hals aufsteigen, doch konnte er dem im Augenblick nicht gleichgültiger gegenübertreten.

„Ich kann sie nicht zurücklassen", sprach er und entdeckte hinter Deimos Phobos, der die Treppe zum Deck hinaufkam.

Sein Gesicht war vor Aufregung zur Faust gestählt, als er sich lieblos das dunkle Haar zum Zopf band und sich zu seinen Brüdern gesellte. Es gab wenig, was Phobos so verführen konnte wie ein guter Kampf. Die Vorstellung, sich mit einem Gott zu messen, ließ sein Inneres beben mit kindlicher Aufregung. Zu schade, dass er das Schlachtfeld heute nicht betreten würde.

„Die Soldaten haben den Strand erreicht. Du solltest jetzt ge..."

Phobos' Worte verschwammen mit Kampfschreien, als eine meterhohe Feuerwalze über die Schiffe rollte und eine Armee von Geistern zwischen den Bäumen hervortraten. Bevor die Flammen die Brüder erreichen konnten, sprangen die Zwillinge in Bewegung und spalteten die glühende Welle. Brennende Baumkronen, umgefallene Stämme und dunkler Qualm, der in Richtung Himmel stieg. Dies war keine einfache Warnung. Hapi war bereit Aurin zu zerstören.

„Geh, Luciel!", rief Phobos über den Krach hinweg, "Wir warten hier!"

Luciel verlor keine Zeit, nickte den Brüdern zu und schmiss sich über die Brüstung ins Meer. Aurin hatte einige Verstecke, vielen von ihnen waren ihm unbekannt, doch wusste er genau, wo er Vina finden würde. War es Intuition, Vorahnung, Zufall oder möglicherweise meinten es die Götter doch gut mit ihm, aber irgendetwas flüsterte ihm zu, wohin er gehen musste. Das Meer begrüßte ihn in frischer Umarmung, doch hielt diese nicht lange an. Mit kräftigen Stößen durchbrach er das Wasser und erreichte den Strand abseits des Geschehens. Der Wald stank nach Rauch, brannte in seinem Hals. Verkohlte Baumstämme begleiteten seinen Weg – einige brannten noch lichterloh. Asche schneite wie dreckiger Schnee auf ihn nieder, während er durch die falsche Winterlandschaft eilte. Immer tiefer verschluckte der Wald seine Figur bis die Natur wieder lebendiger wurde. Weitab vom Kampf, inmitten der idyllischen Landschaft gebettet, fand Luciel sein Ziel. Unberührt vom Angriff der Soldaten ruhte die Holzhütte zwischen Dauergrün. Egal, ob Stürme wüteten oder Fluten die Insel tränkten, auf dieser Lichtung schein die Sonne immer. Abryss schenkte seiner liebsten Kreation die innigste Liebe und den hellsten Sommertag. Und Luciel hatte es verstanden, hatte ihn verstanden.

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt