Die See ruhte vor einem Unwetter. Der Wald erstarb in Gesellschaft einer Bestie. Auf Stille folgte das plötzliche Chaos. Katastrophen näherten sich unbemerkt, ließen sich heimlich bei ihren Opfern nieder, wogen mit Sicherheit und schlugen zu, sobald sich eine Möglichkeit darbot.
Ein Sturm würde Luciels Leben erschüttern. Er würde erbarmungslos wüten. Gnadenlos. Hemmungslos. Der Wind würde Stämme brechen, Äste vom Himmel hageln lassen und Regen – kalt und spitz wie Nadeln – ihn verschlucken. Verzweifelt und panisch würde er nach Luft ringen und sein letzter Atemzug, so schwer und beinahe theatralisch, nicht mehr als eine Blase an der Wasseroberfläche werfen.
Ein Sturm würde Luciels Leben erschüttern. Ihn gänzlich entwurzeln, alle Sinne rauben und das Land seiner Selbst in einem neuen Meer ertränken. Dämme würden bersten, Mauern fallen, Erinnerungen versagen. Die reißenden Wellen, die räuberische Strömung könnten Dämonen zu Fall bringen und die Welt erneuern. Doch sobald die Böden das ganze Wasser tranken, neue Knospen auf den Bäumen sprossen, sich der Himmel klärte, die ersten Sonnenstrahlen die Erde küssten und die letzten Schatten der Vergangenheit weggespült waren, so erstreckte sich der weite Platz für neue Wahrheiten.
Ein Sturm würde Luciels Leben erschüttern, doch blieb ihm dies noch verborgen.
Erschöpft schleppte er sich durch die Gänge der Sternenhalle. Seine Bettdecke schliff hinter ihm den Boden entlang, unter dem Arm hatte er ein Kissen geklemmt. Vina würde noch eine Nacht länger in der Waldhütte verbringen, jedoch ohne ihn. Auch wenn er es niemals in ihrem Beisein zugegeben hätte, machte ihm der Wald Angst. Die fremden Geräusche, das fehlende Licht und vor allem die Neigung seiner Gemahlin zum Reden im Schlaf waren Umstände, auf die er insgesamt verzichten konnte. Als Hapi also verkündete, dass er die letzte Nacht bei Vina verbringen würde, folgte kein ernstgemeinter Widerstand des Prinzen. Aus reiner Höflichkeit hatte er kurz bestanden mit der stillen Hoffnung, Hapi würde ihn einfach wegschicken. Was sich ebenso ereignet hatte. Luciel öffnete die Tür zum Gemach und wollte sie im gleichen Moment wieder zufallen lassen, als er Yao erblickte. Mit dem Federwedel in der Hand huschte sie über die Möbel, ein Lied auf den Lippen. Eben diese Melodie hatte sie eines Nachts in der Küche gesummt, kurz bevor sie Luciel die Schatulle am Strand entnommen hatte.
Das Lied seiner Kindheit. Eine zephyrische Komposition.
„Seid gegrüßt, Eure Hoheit." Sie warf die leeren Worte in den Raum, legte den Staubwischer auf dem Schreibtisch ab und begann diesen aufzuräumen.
Luciel nickte ihr zu. Die Kraft für ein Lächeln fehlte ihm. Stumm warf er Decke und Kissen zurück auf das verlassene Bett und wand sich der Zofe zu. Sie blätterte interessiert durch die Seiten eines Buches. Vor nicht allzu langer Zeit noch wäre der Prinz ihr aus dem Weg gegangen. Die Nacht am Strand, ihr höllisches Antlitz hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt und nicht weniger als eine Handvoll seiner Albträume inspiriert. Doch etwas in ihm hatte sich gewandelt. War es die gewonnene Sicherheit? Selbstvertrauen? Immerhin wusste er, dass Vina ihn vor Hapi verteidigte. Yao und welches Scheusal sich hinter ihrer menschlichen Maske verbarg, machte ihm nicht mehr Angst als die Geschwister, vor allem aber Hapi.
„Was liest du?", fragte er.
Sie klappte die Lektüre zusammen und reihte sie ins Regal, "Meine Meisterin wünscht ein Buch. Doch dieses ist das Falsche."
Luciel trat an den Schrank heran, zog selbiges Buch wieder hinaus und schaute durch die vergilbten Seiten. Der Kronprinz und das gestohlene Herz, thronte der stolze Titel auf der Vorderseite in breiter roter Schrift. Dass Vina in ihrer Freizeit Liebesromane las, überraschte ihn weniger als der Umstand, dass es ihm bislang nicht aufgefallen war. Versteckte sie die Bücher vor ihm? Oder schenkte er seiner Angetrauten nicht ausreichend Aufmerksamkeit?
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasyKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...