„Ist das Zimmer zu deiner Zufriedenheit?"
Luciel starrte nach unten. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihm und Hapidea baute sich ein Meer von mit Beilagen gefüllten Tellern und Schüsseln auf. Pilze, Kohl, Bohnen und anderes Gemüse, das er noch nie zuvor gegessen gar gesehen hatte, eingelegt in zahlreichen Brühen breitete sich vor ihm aus. Fleisch suchte er vergeblich, doch das sollte ihn nicht stören. Niemals etwas bemängeln! Der Geruch kitzelte in seiner Nase.
„Ich habe alles, was ich brauche." Leere Floskeln, ein Spielball zwischen ihnen, "Vielen Dank für deine Gastfreundschaft."
Die Einladung zum gemeinsamen Frühstück war unerwartet gekommen, das Wecken von Yao noch mehr. Das Gespräch zwischen den Wachen, welches er einige Tage zuvor belauscht hatte, diente doch als Beweis für Hapideas Misstrauen. War dies ein Essen oder wohlmöglich doch nur ein Verhör?
„Nicht doch. Ich hoffe, unsere aurinische Küche ist nicht zu fremd auf deiner Zunge", erwiderte er, "Man sagt nicht umsonst: Zephyren essen, wie sie glauben, nämlich einseitig."
Der Prinz war sicher, dass niemand jemals so etwas gesagt hatte. Hapidea musste sich das ausgedacht haben, um Abryss grundlos zu verschmähen. Das war es.
Der Inselherr beobachtete ihn. Mit den Augen eines Raubtieres folgte er Luciels Fingern, die zögerlich nach dem Besteck fühlten. Wartete er auf einen Missgriff? Einen Fehltritt? Ein Indiz für Luciels kommende Schuld? Seinen künftigen Verrat? Seine Hand fror auf dem Löffel ein.
„Bestimmt nicht." Seine Stimme kam bei Weitem nicht so fest und sicher heraus wie beabsichtigt, "Es sieht wundervoll aus."
„Fang gerne ohne mich an."
Sein Blick traf Hapideas. Ein Lächeln thronte auf seinen Lippen. Mit ruhigen Griffen langte er nach der kleinen Kanne in der Mitte des Tisches und schwenkte sie ihn breiten Kreisen, um den Teesatz zu lösen. Unschlüssig führte er einen Pilz auf seinen Löffel und roch unauffällig daran. Selbst wenn das Essen vergiftet wäre, wie sollte Luciel dies zwischen den ganzen fremden Gewürzen erkennen können?
Er senkte seinen Löffel, "Ich könnte niemals vor dem Hausherren essen. Bitte."
Demonstrativ schob er einen Teller mit gesalzenen Bohnen zu Hapidea. Dieser goss sich Tee ein, ignorierte das Angebot völlig. Stattdessen nippte er genüsslich an seiner Tasse. Warum aß er nichts? Dem Essen war doch nicht tatsächlich etwas beigefügt? Besorgt floh sein Blick durch das Zimmer hin zu den Bediensteten, die nebeneinander am Ausgang knieten. In ihren Armen hielten sie Tablette, die Köpfe in Demut gesenkt. Ob er eine von ihnen auffordern könnte, das Essen zu testen? So anmaßend war selbst er nicht. Luciel verwarf die Idee wieder.
„Wusstest du, dass viele der aurinischen Pflanzen auf dem Festland vollkommen unbekannt sind?", sprach Hapidea und setzte die Tasse ab, "Es wächst eine Wurzel in unseren Wäldern, die als medizinisches Wunder gilt. Roh kann sie Schmerzen lindern und Entzündungen hemmen wie kein anderes Mittel in Katen. Aber gekocht sollte sie nie konsumiert werden."
Der Prinz schaute hinunter. Noch immer zwischen seinen Fingern hing der Löffel mit dem Pilz - einsam, unberührt und mittlerweile kalt. Sein Körper hingegen schien Feuer zu fangen, die Hände flimmerten und nach Essen war ihm schon lange nicht mehr. Unauffällig legte er das Besteck ab und griff nach seinem Becher. Bevor er jedoch einen Schluck nahm, erstarrte er. Warum war Luciels Tasse bereits gefüllt gewesen, Hapideas jedoch nicht?
„Das Gift dieser Wurzel ist als Pulver geruchlos und geschmacklos. Wenn man es zu sich nimmt, wird der gesamte Körper gelähmt und es dauert nicht lange bis man in seiner eigenen Haut erstickt. Aufregend, nicht wahr?"
Hapideas schwarze Augen funkelten ihn an, Zufriedenheit auf den Zügen. Der Anblick des Prinzen musste wohl einzigartig sein: Gesicht rot angelaufen, die Augen weit aufgerissen und auch wenn Luciel sein Bestes tat, seine Angst zu verbergen, war er spätestens jetzt sicher, dass Hapidea dieses mangelnde Schauspiel schon längst durchschaut hatte. Wie konnte ein so unschuldig wirkendes Antlitz, ihm derart boshaft entgegentreten? Wenn er Luciel töten wollte, warum erschlug er ihn nicht einfach im Schlaf? Wozu das Spiel mit Beute?
„Das habe ich mir soeben ausgedacht. Keine Sorge."
Sein Schmunzeln wuchs, als er nach der Schüssel Bohnen griff und sich eine Handvoll von ihnen in den Mund schob. Nachdem er bezeugt hatte, wie Hapidea seinen Bissen anschließend mit Wasser hinunterspülte, ließ die Anspannung allmählich von ihm los. Glücklicherweise saß er auf dem Boden, denn seinen Knien war längst nicht mehr zu trauen. Seufzend hob er seinen Löffel wieder auf.
„Eine wahrlich anregende Fantasie, die du da besitzt."
Luciel war Streiche gewöhnt, gewiss. Immerhin war er mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen und auch wenn sie ihn abgöttisch liebten, so war auch er früher oftmals ihren Albereien ausgesetzt gewesen. Doch so weit waren auch Phobos und Deimos nie gegangen. In Hapidea hätten sie wohl ihren Meister gefunden.
„Fürchtest du den Tod, Luciel?"
Wie Honig, sanft und süß, trieften die Silben von der teuflischen Zunge, doch ließ Luciel sich nicht länger täuschen. Eine scheinbare Drohung, dargeboten als Frühstücksbeilage! In diesem Moment kam es über ihn: Hapidea war niemand, mit dem er sich jemals messen wollte.
„Der Tod ist eine unberechenbare Gewalt. Es liegt wohl in der menschlichen Natur, sich davor zu fürchten", entgegnete er, "Hegst du keine Angst?"
„Deinen Worten nach bin ich dann wohl kein Mensch."
Ehe Luciel darüber nachdenken konnte, was diese kryptische Antwort bedeutete, erhob sich Hapidea und trat an die Brüstung heran. Der Pavillon, zu dem er eingeladen worden war, befand sich einige Minuten abseits der Thronhalle und lag inmitten eines kleinen Gewässers. Wenn er nicht noch mit seiner Aufregung kämpfen würde, wäre die Aussicht wohlmöglich sogar atemberaubend gewesen.
„Die Traugeschenke aus deiner Heimat sind wohl soeben eingetroffen", bemerkte Hapidea.
In der Ferne, jenseits des kleinen Sees, verlief der Weg zum Strand hinunter, wo Luciel das erste Mal mit Boot angekommen war. Stück für Stück hievten Diener die Mitgaben von einem Karren und trugen sie fort. Teure Stoffe, Schmuckkästen, Kunst und edle Kräuter – sie alle erkannte er sofort wieder. Immerhin hatte Luciel sie selbst ausgesucht und da es neben der Hochzeit eben um sein Leben ging, mit viel Großzügigkeit und höchster Sorgfalt. Wenn sich nur ein einziges Geschenk darunter befand, das Vinadea von Aurin gefiel, war sein körperliches Wohl zunächst gesichert.
„Wann wird die Hochzeit stattfinden?", fragte Luciel schließlich.
Hapidea drehte sich wieder zu ihm, doch fokussierte sich sein Blick nicht auf den Prinzen, sondern verfing sich irgendwo hinter ihm.
„In drei Tagen..." Er hielt inne und wand sich im selben Atemzug einer der Dienerinnen zu, "Geleite unseren ungebetenen Gast wieder in ihre Gemächer."
Der Situation nicht gänzlich folgend, stand Luciel auf und schaute sich ebenfalls um. Die Dienerin, eine ältere Frau, stieg die Treppen vom Pavillon hinab und ging zielgerichtet auf die Mauer zu, die den Weg eingrenzte. Kaum hatte sie einen Blick dort hintergeworfen, erhob sich eine Frauengestalt. Ihr Gesicht versteckte sie hinter einem Umhang, den sie sich über den Kopf geworfen hatte. War dies etwa Vinadea? Wer könnte sich schließlich sonst unbemerkt Zutritt zu einem privaten Ort wie diesen beschaffen, wenn nicht die Schwester des Meisters? Erschrocken ergriff sie die Flucht, bevor Luciel ihr Antlitz entdecken konnte. Wie Tinte verlief sich ihr langes dunkles Haar im Wind und der Prinz folgte ihr mit seinen Augen.
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasyKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...