Kapitel Einundvierzig

3 2 0
                                    

Das Manifest einer Göttin.

Auch das Universum konnte irren, dachte Vina, wieso sonst hatte es mich zur Herrscherin der Unterwelt auserkoren? Der Tod lag ihr nicht, das Bestrafen noch weniger. Der Sternenhimmel war Aufgabe genug! Durfte sie sich nicht damit zufriedengeben? Hätte Abryss sich nicht mit dem genügen können, was er bereits besaß? Waren Tiere und Natur nie ausreichend gewesen? Abryss hatte es gänzlich missverstanden: Nicht Hapi würde ihr Untergang werden, sondern die Menschen! Sie waren größte Freude und tragischste Katastrophe. Ihre Entstehung hatte den Keil zwischen Tag und Nacht getrieben. Abryss hatte Vina selbst von sich gestoßen.

Auch Hapi hatte falschgelegen.

Die Hölle und sie passten nicht zusammen. Das wussten alle.

Und dennoch hatte er sie überredet!

Es ist das Richtige, Vina.

Es ist das Natürliche, Vina.

Es ist unsere Aufgabe, Vina.

Wir haben alle unsere Rolle zu spielen. Jedes Leben hat seinen Preis, selbst das unsere.

Nein! Sie hatte genug! Warum fragte nie jemand, was sie wollte? Wonach sie sich sehnte? Was ihre Vorstellung von Glück war?

Auch wenn die Menschen sie als Gottheit des Bösen sahen, auch wenn das Schicksal sie an der Spitze der Unterwelt wissen wollte, so konnte es Vina nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Nicht länger würde sie sich der Schmach aussetzen. Nicht länger wollte sie als niederträchtiges Gegenstück zu Abryss bekannt sein. Nicht länger wollte sie leiden. Nicht länger weinen. Nicht länger die Last der Sünder schultern. Nicht länger Möglichkeiten nachtrauern, sondern sie selbst schaffen! Ihr eigenes Glück schmieden.

Sie war die stärkste Göttin dieser Welt, die älteste obendrein! Ihr Name wurde als Fluch geflüstert! Die Sterne fürchteten ihren Zorn und selbst Abryss wusste, dass die Sonne niemals stark genug sein würde, um ihre Finsternis zu erleuchten! Wer war das Schicksal, ihr vorzuschreiben, wer sie zu sein hatte? Wer waren die Menschen, sie für ihr Unglück verantwortlich zu machen? Wer war Abryss, ihr keine Entscheidungsmacht zu geben? Ihr Hapi nehmen zu wollen?

Nichts mehr davon!

Vina beschloss sich von der Unterwelt wieder zu trennen. Hier und jetzt. Heute und augenblicklich. Sie rammte ihre Faust in ihren Brustkorb, brach Rippen auseinander und zog und zerrte an dem Höllensetzling in ihrem Herzen. Sie hielt ihn ins Licht, betrachtete den Samen, der unter Qualen in sie gelangt war. Ein Fremdkörper, ein Fluch. Wie sollte sie jemals etwas derart Niederträchtiges als ihr Eigen sehen können? Das war sie nicht, ich bin nicht böse! In ihren blutigen Händen zerdrückte sie den Setzling. Die Unterwelt würde eine andere Gottheit finden, aber nicht sie.

Nie wieder Vina.

Mit spitzen Nägeln zog sie die Wurzeln aus ihrem Fleisch und spürte mit einem Mal die Schwere von sich fallen. Wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks. Wunden schlossen sich, die Reste des Setzlings fielen zu Boden. Die Unterwelt begann an ihr zu nagen, kratzte von innen an ihrer Haut.

Oh nein! Sie wollte endlich herauskommen, doch Vinas göttlicher Körper ließ sie nicht! Sie musste ihn zerstören!

Aber nein, Schreck, ein Fieber lähmte ihre Glieder. Schmerz wusch über sie, drückte sie zu Boden, ließ sie verzweifelt nach Luft ringen. Plötzlich war ihr die Sicht geraubt! Die Unterwelt wollte aus ihr ausbrechen, doch hielt ihre Haut sie gefangen. Erinnerungen verblassten, verschwammen und verschwanden schließlich. Nein! Sie musste die anderen warnen!

„Vina!"

Hapi erschien und hielt sie aufrecht, die Arme unter ihre geschlungen. Er war immer an ihrer Seite, oh geliebter Bruder! Sein Gesicht, sein wunderschönes Gesicht verzerrt von Sorge, verzogen von Angst. Wenn sie es doch nur sehen könnte, aber selbst die Erinnerung daran flog weiter und weiter und weiter aus ihrem Griff. Zähne verbissen sich in ihrer Seele, Feuer verbrannte ihren Körper von innen heraus. Raus, raus, raus! Die Unterwelt musste aus ihr heraus! Es schmerzt! Ihr Gedächtnis war ein Pergament und das Fieber brannte sich unaufhörlich hindurch.

„Hapi, hör mir zu." Sie bohrte ihre Finger in seinen Oberarm, "Was ich dir sage, darfst du nicht..."

Sie musste nur ihren Körper zerstören, dann wäre sie frei! Nur diese sterbliche Hülle abstreifen wie ein Kokon und es wäre vorbei! Doch nein, welch Katastrophe, welch göttliche Tragödie, sie hatte es bereits vergessen!

„Sprich doch weiter, Vina!", rief Hapi panisch.

Ihr Blick fern, ihre Augen matt, sah sie zum Todesgott hinauf. Tropfen trafen ihr Gesicht, doch erinnerte sie sich nicht, dass es geregnet hätte. Sie erinnerte sich an nichts mehr! Leer war der heilige Kopf.

„Wer bist du? Wo bin ich?", fragte sie. 

Götterparabeln I: HimmelserklimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt