Henrys Geschichte

397 29 2
                                    

"Henry!" schrie ich ihn mehrmals an, aber er reagierte nicht. Er war wie versteinert, als wäre er eine Statue. Genauso wunderschön und perfekt wie ich ihn an meinem ersten Schultag an der neuen Schule kennen gelernt hatte. Wir sind in eine Klasse gegangen. Vom ersten Moment an wollten alle Mädchen was von ihm. Ich hatte eine ganze Weile gebraucht, um ihn gut zu finden. Seine abweisende Kälte, die er wirklich jedem von uns entgegen gebracht hatte, hatte mich schon damals abgeschreckt. Ich beobachtete ihn deswegen immer nur von Weitem. Wirklich etwas zu tun hatte ich nie mit Henry.

"Henry! Jetzt sag schon was!" brüllte ich ihn an. Langsam aber sicher machte mir seine Reaktion angst. Unten auf dem Gehweg waren Schritte und Stimmen zu hören. Die Personen hatten uns wohl gehört – naja, wohl eher mich. Henry schwieg und starrte noch immer ins Leere. Plötzlich rührte er sich wieder, packte mich an der Hand und verschwand mit mir vom Dach. Wir konnten gerade noch sehen, wie jemand durch die Luke aufs Dach kletterte, um dort nach dem Rechten zu sehen.

Weder Henry noch ich sagten ein Wort, ehe er mich in den Wald gezerrt hatte. Endlich blieb er dann auch stehen, drehte sich herum, hielt mich an den Schultern fest und sah mir fest in die Augen. "Was hat Aro dir angetan?" fragte er leise. Verwirrt sah ich ihn an. "Ich hab ihn doch gar nicht erwähnt. Woher weißt du..." setzte ich an, aber sein Blick verschlug mir die Sprache. Er schien ganz genau zu wissen, was bei den Volturi vor sich gegangen war. Jetzt fragte sich nur noch, wieso.

"Was weißt du?" fragte ich nach. Doch er antwortete nicht, sondern stellte nur eine Frage nach der anderen.
"Hat Aro dich gefangen gehalten?"
"Ja."
"Ein Turmzimmer? Sagt dir das was?"
Ich nickte und erschauderte bei der bloßen Erinnerung daran.
"Immer wieder? Derselbe Ablauf?"
Wieder nickte ich nur.
"Er hat dich an Caius verliehen?"
Mich schockierte es ein wenig, dass es, genau wie Aro es getan hatte, das Ganze als eine Leihgabe betrachtete.
"Woher zur Hölle weißt du das alles?!" wollte ich endlich wissen.
"Mir ist genau dasselbe passiert. Allerdings vor genau 50 Jahren."

Mir fielen schier die Augen aus dem Kopf, als ich das hörte. Henry war genau das passiert, was mir auch angetan wurde? Aber das erklärte auch, wieso alle Mädchen so sehr auf ihn abgefahren sind. Ich meine, Vampire sind generell sehr begehrt bei Menschen, auch wenn sie nicht wissen, dass sie welche sind.

"Wa-" setzte ich an, aber da begann er schon alles zu erzählen. "Ich war auf dem Heimweg von einem sehr guten Freund, als mich Felix plötzlich gepackt hat und in die Burg gebracht hat. Ich hab versucht mich zu wehren, aber ich hatte keine Chance gegen diesen Schrank. Anschließend wurde ich ewig in diesem Kerker festgehalten. Immer und immer wieder wurde ich in dieses weiße Turmzimmer gebracht. Dann hat Aro erst von mir getrunken, dann hat Alessandro mir das Gift ausgesaugt. Die Wunde wurde versorgt und anschließend wurde ich wieder zurück in die Zelle geworfen.
Als ich dann immer schwächer und krank wurde, verlieh mich Aro an Caius. Er kam in meine Zelle um von mir zu trinken. Am Tag zuvor war ich allerdings schon bei Aro gewesen. Es dauerte nicht lange, bis ich bewusstlos geworden bin. Als ich dann aufgewacht bin... Naja, das weißt du ja.
Jedenfalls ist es mir dann ein paar Tage später die Flucht gelungen. Seit dem reise ich durch die Welt." schloss er seine Geschichte.

"Das klingt fast so, als hättest du mir gerade erzählt, was mit mir passiert ist. Ich meine, dass stimmt alles ganz genau, bis auf das kleinste Detail. Das ist ja schon fast unheimlich." sagte ich erstaunt.
"Naja, ich finde das weniger unheimlich, als grauenvoll. Wer weiß, vielleicht sind wir nicht die beiden Einzigen, denen es so ergangen ist. Die Tarnen die Verwandlung als Unfall, wieso auch immer."meinte Henry.
"Was haben die denn davon? Macht denen das Spaß oder wie? Den Teil mit dem Blut könnte man ja noch nachvollziehen, aber die Verwandlung? Das ergibt doch gar keinen Sinn!" schimpfte ich. Wir begannen ein wenig durch den Wald zu gehen.
"Ich will gar nicht wissen, was die damit bezwecken wollen." meinte Henry.

Wir schwiegen eine Ganze Weile und gingen nur stumm nebeneinander her. Er brach schließlich die Stille. "Sag mal, hast du auch diese lächerliche Prüfung machen müssen?" fragte er nach. Ich nickte. "Jup. Kam bei dir was raus?" wollte ich nun von ihm wissen. "Nein. Ich bin vollkommen talentlos, abgesehen davon, dass ich Felix mit meinen Kampfkünsten fertig gemacht habe." lachte er. Ich guckte ihn erschrocken an. "Du hast ihn fertig gemacht?" Er nickte, musste noch immer lachen. "Und du?" fragte er nach. Ich schwieg. "Ich mach mich schon nicht lustig über dich, wenn du keinen der Typen fertig gemacht hast." versprach er. "Naja, so schlecht hab ich mich nicht geschlagen. Aber am Ende ist es mir gelungen, Jane komplett lahm zu legen." sagte ich gerade heraus und war auf seine Reaktion gespannt.

Henry sah mich geschockt an. "Wie hast du das denn geschafft? Nachdem ich Felix erledigt hatte, hat Jane mich erledigt!" meinte er und klang dabei schon fast neidisch. "Ich hab eine Gabe, die der von Jane sehr ähnlich sein zu schein. Sagt zumindest Aro. Naja, ohne es zu wissen habe ich Jane Schmerzen zugefügt. Das hat sie dann auch umgehauen. Aber unter Kontrolle habe ich das Ganze nicht. Ist mir aber im Moment auch ziemlich egal. Ich werde nie wieder was mit denen zu tun haben." erklärte ich.
"Wow, sowas hätte ich jetzt nicht von dir erwartet." gab Henry lachend zu.
"Hätte ich ja auch nicht!" Auch ich musste lachen.
"Aber mal im Ernst: bist du dir sicher, dass du mit den Volturi nichts mehr zu tun haben willst? Was hat Aro denn zu deiner Gabe gemeint?" fragte er nach, nun wieder vollkommen ernst.
"Er hat nur gemeint, dass er es interessant findet und gespannt ist, ob ich die Gabe selbstständig soweit trainieren kann, dass ich Jane das Wasser reichen kann."
Wieder wurde er ganz ruhig. Ich traute mich gar nicht erst nach zu fragen, was er denn nun wieder hatte.

"Ich glaube nicht, dass wir nun Ruhe vor denen haben." sagte er plötzlich.
"Wir?" Ich war erstaunt, dass er von uns beiden sprach, obwohl wir uns kaum kannten.
"Wenn wirklich das eintreten sollte, was ich befürchte, lass ich dich keine Sekunde mehr alleine."
"Was meinst du denn?"
"Wenn Aro deine Gabe interessant findet, dass versucht er alles, um dich bei sich zu haben." erklärte er.
"Klingt ganz nach ihm. Aber heißt das dann nicht, dass er versuchen wird, mich zurück zu holen?"
"Genau das heißt das. Und es wird ihm ein Leichtes sein." murmelte er.
"Ich bin durch mehrere Seen und Flüsse geschwommen, meine Spur aufzunehmen sollte dadurch so gut wie unmöglich sein." gab ich zu bedenken.
"Nicht für ihn. Besser gesagt, für Demetri."
"Hä?" Jetzt war ich verwirrt.
"Ganz einfach: wenn Demetri jemandem begegnet, es reicht auch schon, wenn diese Person den Gesuchten kennt, kann er dich auf dem ganzen Planeten aufspüren. Frag mich nicht, wie er das macht. Aber er ist verdammt gefährlich. Wenn du tatsächlich gesucht wirst, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er dich findet."
Ich sagte nichts mehr. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, dann müsste es nicht mehr all zu lange dauern, bis Demetri wirklich hier aufkreuzen würde. Wahrscheinlich wären dann auch noch Felix und die Zwillinge bei ihm. Damit sanken unsere Chancen gegen 0. Das Einzige was uns übrig bleiben würde, wäre die dauerhafte Flucht. Aber kann man so denn weiter leben? Wenn man von jemandem gejagt wird, der immer genau weiß, wo man ist, man selbst aber nie weiß, wo der Jäger steckt? Das wäre ja das reinste Katz und Maus Spiel!

"Wie lange bist du jetzt schon weg?" wollte Henry wissen. Ich dachte kurz nach. Durch die Zeit die ich Unterwasser verbracht hatte, konnte ich das nicht so genau sagen. "Ich weiß nicht genau. Vielleicht ein bis zwei Wochen? Bestimmt nicht länger. Wieso fragst du?" wollte ich wissen. "Weil es keine zwei Wochen von Italien bis hier her sind. Er könne dir längst auf den Versen sein. Vielleicht kommt er auch jeden Moment angerannt, ohne, dass wir etwas davon ahnen." Entgeistert starrte ich ihn an. "Wäre das denn möglich?!" Er nickte nur stumm.

Plötzlich schreckte uns ein Geräusch auf. Es klang wie knackende Ästchen, so als ob man über den Waldboden ging. Panisch sah ich in die Richtung, aus der das Geräusch eben gekommen war. Ich konnte nicht sagen, ob das wirklich Demetri und die anderen waren. Ich wollte es auch gar nicht raus finden! Aber das Geräusch kam immer näher. Ich konnte mich nicht rühren, ich war wie versteinert vor Angst.

------------------------------------------------------------
Wie versprochen geht es heute weiter.
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat.
Nächsten Montag geht es dann wieder
weiter :D

Der BlutspenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt