Erinnerungen

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Ich lief am Strand entlang und hielt den Blick gesenkt. Es musste ja niemand der wenigen Personen die sich bei diesem starken Regen noch hier aufhielten, meine blutroten Augen sehen. Klar, es gab viele Möglichkeiten, auch als Mensch eine solche Augenfarbe zu erlangen, aber es fiel dennoch stark auf, wenn jemand einen ansah, der ohnehin verdächtig blass war und dann auch noch so stechend rote Augen im Gesicht hat. Darauf, Aufmerksamkeit zu erregen, war ich aus mehreren Gründen nicht scharf. 

An einem Teil des Strandes, der etwas abgelegener war, blieb ich stehen und sah auf das weite Meer hinaus. Meiner Meinung nach war England noch immer zu dicht an Italien dran. Nicht einmal das Weltall wäre ein akzeptabler Abstand. Ich würde dort eigentlich überleben können. Ich brauchte immerhin weder zu atmen, noch musste ich Nahrung zu mir nehmen. Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es eigentlich ganz cool, mal durchs All zu schweben und mir ein paar Planeten anzusehen. Aber die fehlende Schwerkraft würde auch einiges schwer bis unmöglich machen. Interessant wäre aber auch zu wissen, was wirklich passiert, wenn man in ein schwarzes Loch gerät. Vielleicht würde ich ja in einer anderen Galaxie lande, in der es einen mit der Erde vergleichbaren Planeten gibt. Oder im schlimmsten Fall würde – wie auch immer das möglich sein sollte – mein Körper in die einzelnen Moleküle zerlegt. Das Risiko wollte ich dann doch nicht eingehen. 

Was aber auch interessant wäre: Atlantis suchen. Schon als kleines Kind fand ich Geschichten von Meerjungfrauen faszinierend und alles was unter Wasser abging sowieso. Ich war wohl eines der wenigen Kinder, die nicht schwimmen konnten, aber dennoch immer ins tiefe Becken gesprungen waren, weil sie tauchen wollten. Meine Eltern mussten immer wie irre aufpassen, dass ich da eben nicht tat, weil ich sonst vermutlich ertrunken wäre. Aber das konnte mir ja nun nicht mehr passieren. Vielleicht würde ich ja tatsächlich fündig werden? Naja, jetzt wollte ich meine neue Existenz erst einmal an Land genießen. Erst einmal würde ich mich in der Welt umsehen. Was ich anschließend machen wollte wusste ich noch nicht. „Vielleicht beschäftige ich mich mit der Mythologie? Wenn Vampire existieren, vielleicht dann auch Werwölfe und Hexen?“ murmelte ich vor mich hin und bückte mich, um einen Stein aufzuheben, dessen abgebrochene Kante merkwürdig aussah. Von außen war es ein vollkommen normaler Stein, aber innen war er komisch schwarz, eher grau und hatte eine komische Struktur. Er war ganz glatt, aber doch scharf. Eindeutig ein Feuerstein. Ich ließ den Stein fallen und hob einen unversehrten ein Stück weiter weg auf. Mit Leichtigkeit zerbrach ich ihn und stellte fest, dass auch dieser ein Feuerstein war. Ich sah mir noch ein paar weitere Steine an, nur um festzustellen, dass hier vermutlich jeder Stein zu meinen Füßen dafür geeignet gewesen wäre, ein Feuer zu entfachen – wenn ich es denn gewollt hätte. 

Aus meiner Entdeckung schloss ich, dass ich mich an einem Ort befand, an dem ich schon einmal gewesen war. Eine Woche lang. Ohne Eltern. Mit der Schule. Bei einer Gastfamilie. Ich war also in Hastings. Ob ich mich hier wohl noch zurecht finden würde? Das musste ich doch gleich mal ausprobieren. 

Ich verließ den Strand und ging durch die dunklen Straßen. Der Himmel war schwarz, komplett bedeckt mit dicken Regenwolken, wie nicht selten hier. Wie spät es allerdings war, konnte ich nicht sagen, zumindest war mal niemand mehr auf der Straße und die Laternen brannten ebenfalls. 

Die Gassen durch die ich ging kamen mir alle so bekannt vor. Ich erinnerte mich genau daran, aber in meinen Erinnerungen sah alles eher aus wie in einem Film in schlechter Qualität. Als würde man in YouTube ein Video gucken, das nicht in HD verfügbar war. Das unscharfe Bild störte auf eine merkwürdige Art und Weiße, obwohl es eigentlich überhaupt nicht schlimm war und der Information keinen Abbruch tat. Entweder es war schon zu lange her, dass ich genau hier gestanden habe, oder es liegt einfach daran, dass meine Augen nun so viel schärfer sind. Ich seufzte leise und ging einfach weiter, ohne wirklich darauf zu achten, wohin es mich zog. 

Ich fühlte mich wohl hier. Die salzige Luft, der eigentlich kalte Regen auf meiner Haut, selbst meine komplett durchnässte Kleidung – alles fühlte sich so gut an, lebendig. Ich genoss meine Freiheit und sog die Luft tief ein. 

Als ich realisierte, wo ich mich befand, stand ich auf einem Gehweg. Hinter mir war eine niedrige Böschung, dahinter eine Mauer, die ich nur zu genau kannte, selbst die schwarze Färbung, die jemand mit einem Feuerstein hineingeritzt hatte. Es waren die Initialen eines jungen Paares, umrahmt von einem viel zu spitzen Herz, aber der unhandliche Stein ließ es leider nicht zu, schöne Rundungen zu zeichnen. Da war der raue, unebene Stein aus dem die Mauer erbaut war, auch keine Hilfe. Würde ich mich umdrehen. Könnte ich zwischen einigen Büschen hindurch schlüpfen, mich auf die Mauer setzten und hinüber zum Meer blicken, das zwar einen guten Kilometer entfernt war, aber durch die hohe Lage dieses Ortes gut zu sehen war. Von dort aus konnte man auch bis nach Rye sehen, eine weitere Kleinstadt, die ebenfalls direkt am Meer lag und die Hafenstadt ist, an der wir damals angekommen waren. 

Ich hatte aber nur Augen für die Reihenhäuschen, die sich direkt mir gegenüber auf der anderen Straßenseite befanden. Sie hatten dieses typisch englische Aussehen und waren von innen genauso klein, wie sie von außen aussahen. Aber super gemütlich. Ich vermisste die Zeit in England. Es war hier wirklich schön gewesen. Vor allem war mein Leben damals noch viel einfacher. Ich hatte mir wegen den banalsten Dingen den Kopf zerbrochen und mein größter Albtraum war es damals gewesen, wenn ich ein Referat halten sollte, besonders wenn es ein spontanes war. Oder wenn ich eine Spinne sah, den Kopf kurz drehte und sie dann verschwunden war. Gänsehaut pur. 

Ohne jeden Grund begann ich einfach zu lachen. Über meine eigene Dummheit, dass mir so etwas tatsächlich einmal solche Angst einjagen konnte, dass ich am liebsten einfach sofort tot umgefallen wäre, oder mich zumindest an einen anderen Ort gewünscht hatte. Das war alles rein gar nichts im Vergleich zu dem, was ich in der letzten Zeit durch gemacht und erlebt hatte. Zudem wusste ich ganz genau, dass meinem nun eigentlich unendliches Leben sofort ein Ende gesetzt werden würde, sobald die Volturi mich in die Finger bekommen würden. Aber das war es mir Wert. Ob sie mich nun jagten oder nicht; ich war frei. Auch wenn es vielleicht nur für kurze Zeit sein würde, wollte ich einfach nicht weiter darüber nachdenken. Immerhin war ich jetzt auf mich alleine gestellt, was aber auch gleichzeitig bedeutete, dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Klar, mein „freier Wille“ war eingeschränkt, aber ich hatte jetzt wirklich keine Lust, in bester Ethikmanier über dieses leidige Thema von Freiheit zu philosophieren. Da merkt man mal, wie der Unterricht doch mal zu den unpassendsten Zeiten wieder hervor kriecht. 

Ich blieb noch eine ganze Weile stehen und betrachtete das Haus, in dem ich einst meine Zeit hier verbracht hatte. Natürlich war ich viel mehr draußen gewesen, auch einen Tag lang in London, als im Haus. Aber es war trotzdem sehr schön dort gewesen. Die Gastfamilie war sehr nett gewesen, vor allem die Mutter. Die Fürsorge in Person, eine typische Mama eben. Immer darum bemüht, die Kinder zu versorgen, damit sie es schön und einfach haben. 

Mein Weg führte mich zurück an die Küste. Dort lag nämlich der Platz, an dem ich mich auch sehr häufig aufgehalten hatte und mit dem ich nur Gutes und vor allem sehr viel Spaß verband. Auch wenn er einen komischen Namen hatte. Carlisle. Also wirklich. Den Engländern hätte da doch auch etwas Besseres einfallen können, oder? Ja okay, man konnte sich den gut merken, aber ihn auszusprechen war anfangs schon schwer. Schreiben konnte ich es aber sofort, ganz im Gegensatz zu meiner Freundin, die es immer mit ‚K‘ geschrieben hatte. Ich verweilte dort eine ganze Weile, setzte mich auf eine Bank und sah mich um. Ein Paar ging gerade am Strand entlang. Der Mann hatte einen Arm fest um seine Freundin geschlungen, sie hatte ihre kleine, braune Ledertasche an sich gedrückt und hatte sich bei ihm eingehakt. Der Regen prasselte auf den hellblauen Schirm und erzeugte dabei eine entspannende Melodie, die das Schweigen der Beiden angenehm machte. Eigentlich hätte ich das alles gar nicht hören dürfen. Die Sinne eines Vampires eben. 

Die Sonne begann bereits wieder aufzugehen, als ich mich wieder in Bewegung setzte, um tiefer ins Landesinnere vorzudringen. Mich zog es dieses Mal nach London. Dort würde ich mich eine ganze Weile aufhalten können. Dort könnte ich mich von ein paar Obdachlosen ernähren und sicher auch in einem abgelegenen und ausrangierten Lager verstecken, oder vielleicht würde ich ja auch eine baufällige Ruine oder ähnliches finden. Irgendwas eben, was mich vor den Augen der Menschen verbergen würde, bis ich mich im Schutze der Nacht frei bewegen könnte. 

Vorerst versteckte ich mich in einem Wald nahe Londons, da die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Es regnete zwar noch immer, aber sie kam dennoch immer wieder so spontan zwischen den Wolken hervor, dass es mir höchstwahrscheinlich nicht gereicht hätte, mich schnell zu verstecken. Also wartete ich auf dein Einbruch der Nacht.


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Ich hab jetzt mal ganz spontan beschlossen,
heute Abend weiter zu schreiben. Was dabei
heraus gekommen ist, seht ihr ja hier ;)

Ach ja: "Carlisle" ist tatsächlich ein Platz,
naja, eher ne verdammt breite Straße an der
Küste von Hastings. Und so sieht es dort aus:
http://images.trvl-media.com/hotels/3000000/2250000/2243100/2243080/2243080_29_b.jpg
Und ja, ich war wirklich in England. All das,
was sich hier in der Vergangenheit und in England
abspielt, habe ich wirklich erlebt. Und ich 
vermisse es ^^
Ich dachte mir, wenn ich schon mal was über
England schreibe, dann kann ich das ruhig auch 
mal mit einfließen lassen :)

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