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Wo ist Michael? Die Frage des Oberhauptes der Klinik hallte mir fünf weitere Tage im Kopf herum. Ich bereute es so sehr, den Bunthaarigen einfach so ausgesetzt zu haben. Tagelang wurde ich von Albträumen geplagt. Das Schlimmste war Mellis Beerdigung vor zwei Tagen. Seit dem bin ich nicht mehr zur Arbeit erschienen. Alle waren schwarz gekleidet, es waren über zweihundert traurige Seelen anwesend, Melli vielleicht auch. Sogar Niall und die ganze One Direction Crew war da. Noch nie hatte ich die Jungs weinen gesehen. 

Fast niemand wechselte ein Wort mit jemanden. Das einzige, was gesagt wurde, war, dass es demjenigen Leid tat, dass sie sterben musste. Nur noch Michael war da, ihr großer Bruder. Aber er war auch verschwunden. Alles war meine Schuld. In diesem Moment habe ich meine große Schwester Mali so sehr gehasst. Noch mehr als Michael. Ob Melli im Himmel mit meinen Eltern sprechen würde? 

Es wurden fast nur 1D Lieder gespielt, da die Familie von Melli nicht so gläubig war. Trotzdem war ein Pfarrer anwesend, der die ganze Zeremonie im Auge behielt. Er erzählte mir, dass viele ausrasten würden, vielleicht. Dass es riesige Probleme geben würde, vielleicht. So hatte er es auf den meisten seiner Beerdigungen mitbekommen, sagte er. Diese war aber die traurigste Beerdigung, die er je geleitet hatte. 

Und was tat ich? Ich sah einfach nur mit einem leeren Blick in den Himmel. Ich traute mich nicht, zum Sarg zu sehen. Oder auf das Bild des kleinen Mädchens. Oder zu den traurigen Eltern, zu den Menschen, die Melli besser kannten als ich. Und so liege ich heute immer noch da. 

Deprimiert lag ich in meinem Bett, fast leblos. Melli ließ sich auch nicht mehr blicken, seit Tagen nicht mehr. Ob sie nun ermordet wurde oder einfach nur durchgehend Party machte, um zu vergessen, dass sie fast zwei Menschenleben auf den Gewissen hatte, wusste ich nicht. 

Schon oft hatte ich mich auf die Suche nach Michael gemacht, doch ich fand ihn nie. Ich fuhr fast jede Stunde zurück zum Waldstück, wo ich ihn rausgeschmissen hatte, doch er war nicht da. Nicht mal 5 km weiter fand ich ihn. Auch im Wald war der blinde Junge nicht. Ich wusste nicht, was in mir vorging, als ich ihn gehen ließ. Und ich hätte niemals gedacht, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich ihn zu Gesicht bekam. 

Im Zimmer war es still. Nicht einmal Nirvana oder My Chemical Romance verließen meine Anlage. Als mein Blick auf die Uhr rechts neben mir auf die Wand fiel, rappelte ich mich in meinem grauen Hoddie und Jogginghose auf, um mich umzuziehen und endlich wieder das Haus zu verlassen. Es war 14 Uhr, der Moment, als ich Michael aus meinem Auto und vielleicht auch aus meinem Leben verbannt hatte. 

Mit schwarzer Skinnyjeans und einem warmen, grauen Pullover saß ich im Auto und prüfte meine sowieso schon verwuschelte Frisur im Rückspiegel. Heute musste ich ihn finde. Ich musste. Und wenn nicht, dann konnte ich einfach nicht mehr so weiterleben. Ich meine, ich hatte mein Kitten einfach so ausgesetzt. Und das würde mir Melli auch niemals verzeihen, wäre sie noch hier. 

Es dauerte fünfzehn Minuten, bis ich endlich wieder am Rastplatz ankam. Ich stieg aus und ging mit müden Schritten in den angrenzenden Wald hinein. Heute würde ich ihn finden. Ich musste.

Die Vögeln zwitschernden, als wäre nichts passiert. Die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, wurden ebenfalls vom Hebstwind weggeweht. Die Äste und Pflanzen auf den Boden knackten, als ich auf sie trat. Das erste Mal seit Wochen bekam ich ein Wort aus mir heraus. "Michael?", fragte ich leise in den großen Wald hinein. Ich musste weitergehen, ich wollte nicht mehr aufgeben. Um das Nachdenken kam ich auch heute nicht mehr herum. Dabei dachte ich, dass ich schon alles überdacht hatte. Über alles intensivst nachgedacht hätte. Falsch gedacht. Das Hirn fand immer etwas zum meckern. Mittlerweile hatte ich bestimmt schon die Hälfte des Walds durchgesucht, aber es war kein Michael in Sicht. Auch nicht auf den Bäumen. Er war blind, aber ich wollte trotzdem auf Nummer sicher gehen. Verdammt, er hatte seit Tagen nichts gegessen. Auch die Polizei war mittlerweile auf der Suche nach ihm, doch sie fanden ebenso wenig wie ich. Bis heute habe ich kein Wort darüber verloren, was genau passiert war. Plötzlich hörte ich ein Auto stoppen, Not bedingt. Es machte diese lauten Geräusche, als hätte der Fahrer ein Elch angefahren. Ich war nicht weit entfernt von der Straße, also lief ich mit schnellen Schritten durch den Schlamm, bis ich an einer Leitplanke ankam. Ein blauer Volkswagen hatte jemanden erwischt. Es standen mindestens vier Menschen um den Verletzten herum. Der Fahrer stand geschockt da, mit seiner Frau und ihren zwei Kindern. Das kleine Mädchen hatte Tränen in den Augen und wimmerte: "Der arme, Papa!" Und der etwas ältere Junge musterte den Verletzten vorbildlich. "Wir müssen einen Arzt rufen!", rief er dann, als er mich bemerkte und verstummte. Somit machte er freie Sicht, sodass ich den Verletzten begutachteten konnte. Ohne zu zögern lief ich zu ihm hin, fiel auf die Knie und schaute nach, ob er noch atmete. "Michael, mein Kitten, alles wird gut.", hauchte ich an sein Ohr. Bleib stark, Cal, nicht weinen. Er hatte seine schwarze Brille verloren. Als der Grünhaarige kurz seine Augen öffnete, erkannte ich nur eine graue Pupille. "Michael, hörst du mich?", fragte ich sanft, als die Frau endlich zum Handy griff und einen Krankenwagen holte. Er blickte zu mir hoch, versuchte mit aller Kraft sich an mein Hoddie zu krallen und lächelte. "Ich dachte schon, du würdest nie kommen."

The blind accident {Malum ff} (Abgeschlossen) ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt