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Michael:

Seit gestern wechselte ich kein Wort mehr mit Calum. Es war ja nicht so, dass wir beide indirekt Fehler begangen haben.. doch, es war so. Der starke Kiwijunge versuchte mit allen Mitteln irgendwie mit mir zu reden, doch ich blockte ab. Ich bin seit über 5 Jahren blind. Wie hätte ich nun ahnen können die Eltern meiner großen Liebe umgebracht zu haben? Das Mädchen schwebte mir immer noch in Gedanken herum. Sie hatte schwarze Haare, so wie Calum. Ich wusste nicht wieso, aber ich vermutete, dass es seine Schwester war, die mir das Augenlicht und meiner Schwester die Beine nahm. Wie ging es ihr eigentlich? Ich drückte auf den Notfallknopf, der direkt neben mir am Bett platziert war. Die letzten Tage waren selbst für mich nicht einfach, obwohl ich eine regelrechte Kämpfernatur war. Nun konnte ich mir auch vorstellen, dass Calum reinkommen wollte, doch ich stieß ihn auch die letzten Stunden immer weg, wollte einen anderen Pfleger haben. Ich hörte, dass Luke herein kam. "Michael, was gibt's?", fragte er besorgt. "Mein Tropf ist denk ich leer, der hat gepiept.", murmelte ich abwesend. Irgendwas stimmte nicht. Ich merkte, dass er etwas bedrückt zu mir sah. Das taten alle Menschen, die rein kamen. Was war passiert? "Luke, sag mir die Wahrheit.", sagte ich ernst. Mein Kopf drehte sich automatisch zu ihm. "Ist was mit Melli?", fragte ich mit ernster Miene. Luke ging kleine Schritte hin und her, bis er das Schweigen brach und mir erzählte, dass die Beerdigung von meiner kleinen Schwester eine Woche her ist. 

Der offene Laptop stand vor mir, Twitter war geöffnet. Luke hatte den Tropf gewechselt, neue Nährstoffe flossen nun in meinen Körper, weil ich von alleine nichts runter bekam. "Schreib das Zitat von My Chemical Romance. >>Everybody wants to change the world but no one wants to die<<.", diktierte ich den Assistent ruhig. Würde ich weinen können, würde ich es tun. Würde ich sehen können, würde ich es tun. Würde ich wieder Klingen und Tabletten schlucken können, würde ich es tun. Aber ich stand unter strengster Beobachtung. "Posten.", sagte ich leise und leer. Ein kurzes Schweigen erfüllte den Raum. Luke stand auf und wollte gehen, doch ich hielt ihm am Handgelenk fest. "Tust du mir nen Gefallen?", fragte ich diesmal etwas liebevoller. Ich spürte, dass er etwas verwirrt guckte. So kannte er mich nicht. "Immer.", gab er dann zurück. "Kann ich zu ihrem Grab?" Schweigen. Ich hasste Schweigen. Die Leere machte mich verrückt. Es war so, wie als wenn ich über den Tod nachdenken würde. Eigentlich ist nichts in meinem Kopf, weil Tod die Leere der Wirklichkeit ist. Oder ist es nur eine Idee vom Tod? Es ist einfach leer, und doch ist alles einfach so stark überlastet. "Ich kann hier nicht weg. Der Einzige, der dafür in Frage kommen würde mit dir irgendwo kurz hinzufahren, wäre Calum.", sprach er behutsam. Er wusste, dass bei uns etwas anders war. "Aber wegen deiner Gesundheit müssen wir sowieso nochmal schauen.", verabschiedete sich Luke nun. "Okay, danke.", meinte ich leise und ließ mich in das große Kissen im Krankenbett sinken. 

Wieder rutschten meine Hände auf den Notfallknopf neben meinem Bett. Ich wusste nicht wie spät es war. Oder ob es überhaupt Uhrzeiten gab. Oder Zeit. "Ja?" Die Stimme würde ich überall wiedererkennen. "Raus.", knurrte ich sofort. "Willst du zum Friedhof oder nicht?" Er fragte so ungewohnt kalt. Ich glaube, ich hatte ihn verändert. 

Es dauerte etwas, bis ich im Rollstuhl saß, mit dem Tropf in einer kleinen, handlichen Tasche gestopft und bereit zur Abfahrt war. Mir ging es eigentlich sehr gut, nur die Ärzte übertrieben mal wieder und packten noch eine extra Flasche für den Tropf ein, obwohl schon zwei vorhanden waren. Ein Akku für den Tropf selbst war auch da. Wir sagten kein Wort. Ich konnte spüren, wie kalt seine Miene und sein Herz geworden waren. Alles wegen mir. 

Dieser Ort kam mir bekannt vor. Ich erkannte die Art, wie die Räder des Rollstuhls über den steinigen Weg humpelten. Die Luft war gefüllt mit viel Traurigkeit, doch auch verbrannte Kerzen und frische Blumen waren zu riechen. Ich wünschte mir, dass ich Melli noch einmal sehen konnte, bevor sie ging. Cal blieb wortlos stehen, wir waren anscheinend da. "Mach bitte ein Bild davon.", sagte ich leise, während mein Kopf geradewegs zum Grab gerichtet war. "Was?", fragte Cal besorgt nach. Da war er wieder. "Mach bitte ein Bild davon.", wiederholte ich mich ungern und schluckte. Ich war zwar nie so richtig gläubig, aber nun fing ich tatsächlich an zu beten. Das einzige Gebet, war ich damals in der Grundschule gelernt habe, war das Vater Unser. Jetzt wusste ich, warum alle glaubten. Sie wollten nicht wahr haben, dass es nach dem Tod nichts gibt und klammern sich an die Hoffnung. Ich hörte einen Auslöser, dann packte er sein Handy weg und legte beide Hände an meine Schulter, beugte sich zu mir hinunter und hauchte mir ins Ohr: "Ihr Grab ist wunderschön. Es ist bunt. Kannst du dich noch erinnern, wie Farben aussahen? Es hängen viele weiße Rosen am Sarg, doch die habe ich alle angemalt, damit es bunter wirkt, damit sie im Himmel glücklich ist. Der Grabstein ist noch nicht fertig, aber es steht ein großes Kreuz vor uns. Es ist dunkelbraun. Auf dem schwarzen Schild steht ihr Name, Geburtsdatum.. und.. ja." Seine Stimme wurde immer sanfter und liebevoller. Flossen gerade wirklich Tränen über meine Wange? "Lass uns gehen."

The blind accident {Malum ff} (Abgeschlossen) ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt