Angie und Germán saßen zusammen in seinem Auto. Es herrschte eine bedrückende Stille. Keiner wusste, was er hätte sagen sollen und ihnen war auch nicht nach Reden zumute.
Sie kamen schließlich an ihrem Ziel an und stiegen steif aus dem Auto. Vor ihnen erstreckte sich ein grüner Park. Gezielt liefen beide zu einer bestimmten Stelle. Der Friedhof mit mehreren Grabsteinen. Vor Marías Grab blieben die beiden die stumm stehen.
Heute war Marías Todestag. Wie Angie diesen verdammten Tag hasste! Unzählige Erinnerungen an ihre Schwester und ein tiefes, schmerzendes Gefühl der Trauer überkamen sie jedes Jahr an diesem Tag. Sie fühlte sich dann einfach nur schrecklich und konnte es nicht erwarten den Tag hinter sich zu lassen. Germán schien sich ähnlich zu fühlen. Seit er wusste, dass Angie seine Schwägerin war, war dies der erste Todestag, den sie gemeinsam verbrachten. Er hatte den ganzen Tag über kaum ein Wort gesprochen und man sah tiefe Augenringe, die auf wenig Schlaf deuteten. Angie musste ziemlich ähnlich aussehen.
Nun standen die beiden hier, vor ihrem Grabstein. Jeder von ihnen hatte einen kleinen Strauß roter Rosen in der Hand. Violetta wollte nicht mitkommen. Sie konnte mit diesem Ort hier nichts anfangen, sie fühlte sich ihrer Mutter auf dem Dachboden, bei den Briefen, Kleidern, Postern und all den anderen Gedenksachen näher. Angie hatte sich für heute freigenommen und so stand sie jetzt mit ihrem Schwager hier.
Sie legten die roten Rosen nun vor ihrem Stein ab und entfernten sich anschließend wieder wenige Schritte. Angie traten bereits jetzt die Tränen in die Augen. Sie warf ihrem Schwager einen kurzen Seitenblick zu. Er wirkte immer so gefasst, so stark und ließ sich auch in diesem Moment nichts anmerken. Die blonde Frau wusste jedoch, wie sehr er seine Frau vermisste.
"Du darfst zuerst.", bot ihr Germán mit krächzender Stimme an und entfernte sich ein wenig, damit Angie mit ihrer Schwester ungestört reden konnte. Zögernd trat sie erneut vor und ließ sich vor dem grauen Stein auf die Knie sinken. Sie spürte, dass das Gras vom Morgentau noch etwas nass war.
"María.", begann Angie leise. Ihre Stimme zitterte. "Auch nach all den Jahren kann ich immer noch nicht fassen, dass du wirklich von uns gegangen bist. Ich kann mich an all unsere Gespräche, deine Aufmunterungen und deinen Rat, wenn ich ein Problem hatte, erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. So viel Zeit ist vergangen und so viel ist passiert. Ich liebe dich. Ich vermisse dich." Bei den letzten Worten begannen die Tränen über ihre Wangen zu laufen und ihre Stimme wurde immer brüchiger. Angie warf einen Blick über die Schulter. Germán stand weiter hinten an einen Baum gelehnt und starrte ins Leere. So fühlte sich Angie gerade. Leer.
"Es gibt jemanden, der dich genauso sehr vermisst.", fuhr sie leicht schluchzend fort. "Er wirkt so stark, aber ich glaube ihm das nicht. Ihm musst du heute besonders nahe sein." Sie brach ab und holte tief Luft. Das Reden fiel ihr zunehmend schwerer. "Deine Tochter hat sich prächtig entwickelt, sie ist ein tolles Mädchen. Du kannst sehr stolz auf sie sein. Ich habe sie, als ich sie vor etwa eineinhalb Jahren das erste mal gesehen habe, sofort in mein Herz geschlossen. Sie hat in dieser Zeit ihre Leidenschaft für die Musik entdeckt. Sie hat eine wundervolle Stimme, genau wie du. Violetta ist dir in vielen Dingen so ähnlich, ein Teil von dir wird für immer in ihr weiterle..."
Angies Stimme brach nun völlig ab. Sie schluchzte und weinte, während sie sich mit ihrer Hand über die Augen wischte, um ihre Tränen loszuwerden. Es brachte jedoch nichts. Neue Tränen stiegen augenblicklich auf und verwischten ihr die Sicht.
Angie erhob sich langsam. Sie wollte ihrer Schwester noch so viel mehr erzählen, doch sie wusste, dass sie es nicht mehr über die Lippen bringen konnte. Eine Hand legte sich, sofort nachdem sie stand, auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und lächelte ihren Schwager schwach an. "María lebt ebenso in dir weiter." Er sprach sehr leise und fuhr ihr beruhigend über die Wange. Er musste ihre letzten Worte gehört haben. "Danke.", brachte Angie brüchig hervor und wand sich ab.