"Ich habe Angst" Teil 1

641 37 22
                                    

Am frühen Abend machte sich die junge Frau auf den Weg zum Castillo Haus. Seit Priscilla dort nicht mehr wohnte, war Angie wieder deutlich öfter bei ihrer Nichte und fühlte sich, wenn sie ehrlich war, um einiges wohler.

Heute war dies allerdings überhaupt nicht der Fall und sie kam ausnahmsweise auch nicht, um Violetta einen Besuch abzustatten, sondern Germán. Sie musste dringend mit ihm sprechen, da sich ihre Gedanken bereits den ganzen Tag über nur um eine Sache drehten. Der Vorfall am Morgen im Studio. Angie war nichtsahnend ins Lehrerzimmer gegangen und hatte dort Priscilla zusammen mit ihrer Tochter vorgefunden. Beide hatten sich äußerst seltsam verhalten und lieferten ihr nur eine schwache Ausrede, warum sie sich unerlaubterweise in diesem Raum befanden.

Unmittelbar danach hatte Angie bemerkt, dass ihre Tasche weit geöffnet mitten auf dem Tisch lag, anstatt an dem Haken zu hängen, wo die blonde Frau sie eigentlich platziert hatte. Sie hatte sofort eins und eins zusammengezählt. Priscilla musste sich an der Tasche zu schaffen gemacht haben! Was sie allerdings vorhatte, blieb Angie ein großes Rätsel. Weder fehlte etwas, noch hatte sich ein fremder Gegenstand darin befunden. Was sie jedoch mit Sicherheit sagen konnte, war, dass Priscilla etwas plante und sich Angie dabei eindeutig um ihr Zielobjekt handelte.

Nach längerem Überlegen und Zögern hatte Angie nun beschlossen, ihren Schwager aufzusuchen und sich seine Meinung anzuhören. Seit dem Vorfall beschlich Angie ein ungutes, mulmiges Gefühl und sie wurde mit verstreichender Zeit immer unsicherer und nervöser. Priscilla war zu allem fähig!

Kurz bevor sie das Haus erreichte, ertappte sie sich sogar dabei, wie sie sich über die Schulter blickte und nach möglichen Gefahren Ausschau hielt. Na toll, jetzt wurde sie auch noch paranoid!

Angie steuerte sogleich die Tür an, welche direkt in die Küche hineinführte. Sie hatte Glück, ihr Schwager befand sich bereits in gewünschtem Raum. Er stand mit einem Glas Wasser in der Hand an die Kücheninsel gelehnt und schien alleine zu sein. Als Angie eintrat, drehte er sich sogleich um und erblickte sie sofort: "Hallo Angie." Sie trat zu ihm und erwiderte den Gruß.

"Vilu ist oben in ihrem Zimmer.", gab Germán sofort Auskunft. "Ähm, nein. Es ist gut, dass ich dich hier treffe, denn ich wollte eigentlich mit dir reden.", stellte Angie klar. "Ja?" "Irgendwie hab ich ein komisches Gefühl, seit ich heute Priscilla dabei erwischt habe, wie sie meine Tasche durchsucht hat.", brachte sie es gleich auf den Punkt. Germáns Gesichtszüge verhärteten sich bei dieser Nachricht mit einem Mal und seine Augen weiteten sich ein Stück. "Sie hat was? Hast du gesehen, was genau sie gemacht hat?" Angie schüttelte den Kopf und erklärte ihm nun ausführlich, wie es sich am Morgen im Studio zugetragen hatte.

"Fehlt was in deiner Tasche?", erkundigte sich Germán anschließend augenblicklich. Angie erkannte, wie ernst er den Vorfall nahm, was sie ungemein erleichterte. Die junge Frau war also nicht die einzige, die das alles mehr als merkwürdig fand. "Nein, nichts. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.", verneinte sie und ergänzte: "Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Ludmila weiß, was Sache ist. Sie war schließlich ebenfalls im Lehrerzimmer! Bestimmt hat Priscilla sie in ihren Plan eingeweiht, vielleicht um Hilfe gebeten und Ludmila wollte ihre Mutter dann aber stoppen.", eröffnete Angie ihm ihren letzten, noch offenen, Gedankengang, "Genau wie vor kurzem mit der Spinne in meinem Auto."

"Ja und nein." Die beiden Erwachsenen zuckten leicht zusammen, als Ludmila plötzlich durch die Tür zu ihnen in die Küche trat. "Ja, ich hab sie dabei erwischt, wie sie deine Tasche durchwühlt hat und hab sie daraufhin aufgehalten.", erklärte Ludmila leise, "Aber nein, ich habe keine Ahnung, was Mamá vorhat, ich bin genauso ahnungslos wie ihr."

Ludmilas Blick schwenkte zwischen Angie und Germán hin und her. "Ich weiß wirklich nichts, das müsst ihr mir glauben. Bitte!" Nachdem auch Germán seiner Schwägerin einen kurzen Seitenblick zugeworfen hatte, meinte er beruhigend: "Natürlich glauben wir dir, Ludmila." Während Angie nickend ihre Zustimmung gab, bildete sich ein großer Kloß in ihrem Hals und sie musste schlucken. Sie zweifelte nicht daran, dass das Mädchen die Wahrheit sagte, sie vertraute Ludmila mittlerweile voll und ganz. Gleichzeitig bedeutete dies aber, dass niemand sagen konnte, was Priscilla vorhatte und diese Tatsache setzte Angie schwer zu.

Mit leicht brüchiger Stimme fragte die blonde Frau: "Sie hat es auf mich abgesehen. Nur auf mich, nicht wahr?" Ludmila sah sie bedauernd an. "Ich fürchte ja." Angie fühlte sich in ihrer Vermutung nur bestätigt, es war so offensichtlich, und doch setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Priscilla war unberechenbar! "Sie sieht dich als Schuldige für die Trennung mit Germán. Seit du aus Frankreich zurückgekommen bist, ist sie eifersüchtig. Es war aus Sicht meiner Mutter lediglich eine Frage der Zeit, bis Germán sie mit dir betrügen würde."

"Was ich nicht getan habe.", murmelte dieser. Es änderte leider nichts daran. "Und jetzt will sie sich dafür an mir rächen.", ergänzte Angie leise und die Jüngere bestätigte: "Sie schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen kann sie dir eins auswischen und zum anderen sieht sie Germán leiden, wenn du verletzt wirst. Für sie ist das pure Genugtuung."

Angie wurde schlecht. Es war der perfekte Plan und er trug ganz eindeutig Priscillas Handschrift. "Obwohl ich meine Mutter kenne, kann ich noch nicht einmal vermuten, was sie jetzt vorhaben könnte. Ich kann dir nur eines raten: Pass auf dich auf!", schloss Ludmila warnend ab. Alles, was Angie herausbrachte, war ein leises "Danke.", woraufhin sich ihr Gegenüber abwandte und die Älteren wieder alleine ließ.

Eine kleine Weile herrschte bedrückende Stille, dann räusperte sich Germán. "Mach dir keine Sorgen, Angie. Wir überstehen das. Was kann Priscilla denn schon groß anrichten?", versuchte er zu beruhigen, scheiterte damit aber kläglich: "Sie könnte zum Beispiel eine Tarantel in mein Auto setzten und mich mithilfe dieser umbringen wollen." Germán wusste, dass es eigentlich schneidender Sarkasmus war, doch ihre Stimme hörte sich einfach nur niedergeschlagen an. Diese Sache nahm Angie offensichtlich ganz schön mit...

Germán seufzte auf und blickte seiner Schwägerin in die blauen Augen, welche so sorgenvoll schimmerten. Auch Angie verlor sich in dem dunklen Braun seiner Augen. Es schien, als würden sie stumm miteinander kommunizieren und der große Mann verstand. Er öffnete einladend die Arme, um seine Schwägerin in eine feste Umarmung ziehen zu können und keinen Moment später schmiss sich Angie förmlich in diese. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn und versteckte ihr Gesicht an seiner Halsbeuge. Wenigstens hier, in den Armen ihres Schwagers, fühlte sich die junge Frau sicher. Germán strich ihr zärtlich über den Rücken, er spürte, wie sehr sie zitterte.

Als Angie wieder zu ihm aufsah, erkannte er die Panik in ihrem Blick. "Ich habe Angst, Germán.", gestand sie flüsternd mit bebender Stimme, "Priscilla ist zu allem fähig. Ich habe Angst, solche Angst!" Germán presste sie augenblicklich fester an seine Brust und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Wie konnte er ihr diese Angst nur nehmen? Wie konnte er seiner Schwägerin helfen?

Germán senkte den Kopf zu ihrem Ohr und hauchte ermutigend: "Wir werden einen Ausweg finden, wir werden dich alle beschützen!" Angie krallte ihre Finger fest in seinen Rücken und biss sich kräftig auf die Unterlippe, um nicht noch in Tränen auszubrechen. Wenn sie ihm doch nur glauben könnte! Aber Germán konnte schlecht die ganze Zeit über an ihrer Seite bleiben und auf sie aufpassen...

"Du musst dich erstmal etwas beruhigen, Angie. Wie wäre es, wenn du heute bei uns bleibst und hier schläfst? Hier bist du in Sicherheit.", schlug ihr Schwager schließlich sanft vor. Augenblicklich nickte die blonde Frau an seiner Schulter. Hierzubleiben klang gut. Angie schlang die Arme noch einmal fester um Germán und dieser begann, ihr liebevoll durch das Haar zu streichen. "Es wird alles gut, Angie. Du wirst sehen."



Germangie - OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt