"Und ich will nicht alleine sein.", drückte Angie schließlich doch klar aus, weswegen sie hier, im Schlafzimmer ihres Schwagers, stand.
Einen Moment lang sah Germán sie perplex an, seine Hand ruhte bewegungslos auf ihrer Wange. Mit so einer Aussage hatte er offenbar nicht gerechnet. Dann aber stahl sich ein ehrliches, vielleicht sogar erfreutes Lächeln auf seine Lippen: "Natürlich darfst du hier schlafen. Wie du weißt, hab ich eine Betthälfte frei, du bist also immer willkommen.", zwinkerte er ihr grinsend zu, während Angie leicht errötete.
"Aber ich meine es ernst. Ich finde es völlig verständlich, dass du nicht alleine sein möchtest und dass du Angst hast. Du musst dir deshalb nicht dumm vorkommen! Es freut mich, dass du zu mir kommst, dass ich dir helfen darf." Germán hatte seine Hand zwar wieder zu sich genommen, dafür sah er sie nun mit solch einem intensiven Blick an, dass Angies Knie ganz weich wurden. "Danke, Germán. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du für mich da bist.", antwortete sie etwas verlegen, aber glücklich.
Es stimmte. In diesem Jahr hatten sie ihre zunächst geschädigte Beziehung mit der Zeit wieder zu einer wunderbaren Freundschaft aufleben lassen. Angie war wirklich froh, dass ihr Schwager und sie nach der Geschichte mit Esmeralda und der Lüge mit Jeremías erneut zueinander gefunden hatten. Vor allem jetzt, da Priscilla weg war, erinnerte ihr herzliches Umgehen miteinander immer mehr an den Anfang, als noch keiner wusste, wer sie war und alles so selbstverständlich und einfach zwischen Germán und ihr war.
Auch wenn es Angie verletzte, nur eine gute Freundin für ihren Schwager sein zu können, obwohl sie doch so viel mehr sein wollte, war sie überglücklich, denn ein Leben ohne ihn konnte und wollte sich die blonde Frau nicht vorstellen! Dann doch lieber auf platonischer Ebene mit der Gefahr, dass er ihr mit einer neuen Frau wieder das Herz brechen könnte. Immerhin begann sie allmählich zu akzeptieren, dass Germán, egal ob er möglicherweise noch Gefühle hegte oder nicht, niemals für eine Beziehung bereit sein würde. An seiner Einstellung, seinen Ängsten und Vorurteilen würde sich nichts ändern...
"Angie?" Die tiefe Stimme ihres Schwagers holte die junge Frau in die Gegenwart zurück. Ertappt blickte sie ihn an: "Entschuldige, was hast du gesagt? Ich war in Gedanken vertieft." Er lächelte mitfühlend: "Ich habe eigentlich gemeint, dass du dir keine Sorgen und nicht so viele Gedanken machen sollst, aber das scheint ja nicht ganz zu klappen." "Nein, wirklich nicht.", bestätigte Angie, obwohl sie sich sicher war, dass er von anderen Gedankengängen sprach als sie.
"Wie wär's, wenn wir ins Bett gehen?", schlug Germán daraufhin vor, "Es ist schon spät und ich wage zu behaupten, dass sogar dein, sich immer überdenkender, Verstand aufhört zu arbeiten, wenn du schläfst." Angie schlug ihm spielerisch auf die Brust: "Da lehnt sich der Señor aber ganz schön weit aus dem Fenster. Mir ist alles zuzutrauen."
Lachend setzte Germán sich auf sein Bett. "Das ist wahr.", und bei Angies unsicherem Blick klopfte er einladend auf die Matratze und ergänzte: "Na komm, mach es dir bequem. Weder das Bett noch ich tun dir was, versprochen." Die blonde Frau folgte seiner Anweisung zögerlich und nahm neben ihrem Schwager Platz. Augenblicklich umschloss dieser ihre Hüfte und ließ sich mit ihr zusammen in die Kissen zurücksinken. "Entspann dich, Angie. Du sollst dich bei mir wohlfühlen!" Er lächelte sie warmherzig an und nach und nach viel jegliche Anspannung von ihr ab. Sie drehte sich auf die Seite, um den großen Mann ansehen zu können, ihre Nasen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
"Also, was hat dich beschäftigt? Warum hast du Angst?", erkundigte sich Germán leise. "Ich hatte den ganzen Abend über so viel Spaß, aber kaum, dass ich alleine war, musste ich wieder an Priscilla denken und an all die Möglichkeiten, wie sie mir schaden könnte.", erzählte Angie genauso leise. "Ich hab Angst vor dem Ungewissen. Ich weiß nicht, wann und wie sie mir wehtun will, sie kann jederzeit zuschlagen."
"Und wenn ich dir anbiete, dein vierundzwanzig Stunden Bodyguard zu werden?", lächelte Germán, seine Stimme verdeutlichte aber, dass er es durchaus ernst meinte. "Wir wissen beide, dass das leider nicht machbar ist. Und auch wenn ich Angst habe, werde ich mein Leben wegen Priscilla nicht umstellen." Angie verfing sich in seinem offenen Blick. "Außerdem würde ich so etwas nie von dir verlangen. Du hast ja schließlich keine Schuld daran."
Germán seufzte auf und strich ihr behutsam eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. Bildete sie sich das nur ein oder suchte er ebenfalls ihre Nähe und den Körperkontakt?
"Und wie es meine Schuld ist." "Was kannst du dafür, dass deine Exfreundin Amok läuft?", hakte Angie verwirrt nach. Ihr Schwager musste bei ihrem unschuldigen Gesichtsausdruck und so viel süßer Naivität lächelnd den Kopf schütteln. "Du bist zu gut für diese Welt, Angie." Diese verstand nun gar nichts mehr. Ein wohliges Prickeln durchlief jedoch aufgrund seines liebevollen Verhaltens ihren ganzen Körper. Ob ihr Schwager auch nur im Geringsten erahnen konnte, was er jedes Mal in ihr auslöste?
"Ich bin doch schuld, dass alles so gekommen ist. Ich bin für die derzeitige Situation verantwortlich. Ich hätte mit Priscilla niemals zusammenkommen dürfen! Dann hätte sie Vilu nicht von der Treppe gestoßen und du bräuchtest jetzt keine Angst haben.", erklärte Germán seine Aussage. Es war nun Angie, die nach der Hand ihres Schwagers griff und ihre Finger miteinander verschränkte. "Du weißt, dass ich dir das niemals vorhalten würde.", flüsterte sie, "Für seine Gefühle kann man nichts." Angie sprach hier aus Erfahrung.
Der große Mann strich ihr mit dem Daumen zärtlich über den Handrücken. "Ich weiß, dass du mir nichts vorwirfst, obwohl ich es durchaus verdient hätte. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich dich... ähm... ES liebe, da-dass... wir wieder so ein gutes Verhältnis zueinander haben." Germán lächelte sie unsicher an und fuhr sich mit der freien Hand verlegen durch die kurzen Haare.
Angie spürte die Luft knistern, ihr Herz hatte bei seinem halben Geständnis einen Schlag ausgesetzt, um jetzt in doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Sie erwartete fast, dass Germán es hören konnte.
Die junge Frau war sich nun fast sicher, dass ihr Schwager mit dieser Mischung aus Nähe, der intimen Vertrautheit zwischen einander, sowie den versteckten, zurückgehaltenen Empfindungen nicht richtig umgehen konnte. Genau wie sie. In einem Anflug von Mut fragte sie: "Als Ludmila heute Nachmittag in der Küche gemeint hat, dass es dich verletzten würde, wenn mir etwas geschieht, warst du sehr zurückhaltend." Sie schluckte und sah vorsichtig auf, direkt in Germáns Augen. "Stimmt es, was sie gesagt hat?" In dem tiefen Braun seiner Pupillen blitzte etwas auf, das Angie nicht zuordnen konnte. Ansonsten blieb jegliche Regung oder Reaktion aus.
Als der große Mann dazu noch den Blick abwendete, löste Angie enttäuscht ihre Hand aus seiner und drehte sich traurig auf die andere Seite, wendete ihm den Rücken zu. Germán sollte nicht sehen, wie in ihr die Tränen aufstiegen. Warum musste ihr Schwager ihr Herz immer mit Füßen treten? Aber das stimmte nicht ganz, in Wahrheit war es ihre eigene Schuld. Wieso machte sich Angie noch immer Hoffnungen? Sie wusste es doch schon so lange und behielt Recht: Germán würde nicht zu seinen Gefühlen stehen. Niemals...
Auf einmal spürte Angie jedoch, wie Germán näher an sie heranrutschte. Er legte seine Hand vorsichtig auf ihre Schulter und drückte diese mit sanfter Gewalt nach unten, sodass seine Schwägerin auf dem Rücken lag. Angie ließ es geschehen, sie sah ihn aus großen blauen, leicht wässrigen Augen an. Germán beugte sich über sie, stütze sich mit einer Hand ab. Mit der anderen wischte er ihr zärtlich die eine Träne ab, die sich aus ihrem Wimpernkranz gelöst hatte. Mit vor Gefühlen belegter Stimme hauchte er: "Wenn Priscilla dir etwas antut und ich dich nicht beschützt habe, dich nicht beschützen konnte, werde ich mir das nie verzeihen. Sie weiß, wenn sie dir etwas antut, tut sie auch mir etwas an."
Germáns Augen strahlten so liebevoll, dass sich Angie gänzlich in ihnen verlor. "Warum?", flüsterte sie und bei seinem sanften Lächeln, welches sofort erschien, wusste die blonde Frau, dass sie im Unrecht war. Er würde zu seinen Gefühlen stehen. "Weil ich dich liebe, Angie."
Kaum hatte er es endlich ausgesprochen, beugte sich Germán zu ihr herunter und verschloss ihre Lippen zu einem langsamen, gefühlvollen Kuss, auf den beide so lange gewartet haben.