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Alex Carter

Als ich heute morgen zur Schule ging, glaubte ich noch, es würde ein stinknormaler Tag werden. Warum sollte ich auch etwas anderes glauben? Immerhin musste ich zur Schule, wie an bisher jedem nervigen Tag auch. Ich war schließlich nur ein gewöhnlicher Teenager, der bloß eine einzige Hoffnung hegte, und zwar dass die Schule eines Tages doch noch in die Luft gesprengt werden würde. An diesem Tag, an dem mit mir die wohl größte Veränderung überhaupt stattfinden sollte, befand ich mich in der Schule, um genau zu sein, auf dem Schulhof, ohne auch nur den leisesten Schimmer davon zu haben, was heute passieren würde... mal abgesehen von der quälenden Mathe-Doppelstunde.

„Andy!", rief ich, lauter als es nötig war, denn Andy stand direkt hinter mir. Für einen Moment hatte ich ihn jedoch aus den Augen verloren, als sich eine kichernde Mädchenclique ihren Weg durch uns hindurch gebahnt hatte.

Genervt drehte er sich zu mir um. „Was ist?", nuschelte er, während er sein mit Käse, Schinken und Salat belegtes Riesensandwich verspeiste. Er hatte jeden Tag ungefähr drei von der Sorte dabei (und das ist nur ein grober Durchschnitt). Er war ein wandelnder Fresssack und mein bester Freund.

„Wo ist Tyler?" Das fragte ich, obwohl ich wusste, dass er genauso wenig Ahnung haben würde, da er schließlich die letzten Minuten bei mir gewesen war und somit ebenfalls nicht mitbekommen haben konnte, wo der Dritte in unserem Bunde verschwunden war.

„Woher soll ich das denn wissen?", fragte er gereizt. Genau die Antwort, die ich erwartet hatte. Andy sollte man nie dabei stören, wenn er gerade beim Essen war, was aber so gut wie unmöglich erschien, da er fast immer aß – auch im Unterricht, wenn der Lehrer es gerade nicht mitbekam. Nichtsdestotrotz war Andy schlank und muskulös. Und das war bei seinem abartigen Hunger kaum zu glauben! Er ging zwei Mal wöchentlich mit Tyler und mir ins Basketballtraining, wo wir – ganz nebenbei erwähnt – zu den drei Besten gehörten. Und sogar dort brachte er jedes Mal Proviant mit. In seinem Bauch musste ein gigantisches Loch sein, das die gesamten Kalorien einsaugte, die er aufnahm, anders gab es dafür keine Erklärung!

Er biss wieder ein Stück von dem Sandwich ab, für das ich mindestens zwei Mal hätte beißen müssen und verschlang es in nur wenigen Sekunden. Ein paar Krümel purzelten dabei auf sein schwarzes T-Shirt. Er schlug sich leicht auf die Brust, wodurch sie auf den Boden rieselten. „Wieso suchst du ihn überhaupt?" Ich hatte Mühe ihn zu verstehen, da er seinen Mund voll hatte. Nicht dass er mal eine kleine Pause hätte einlegen können, wenn er sich gerade mit mir unterhielt.

„Er hat in Englisch Helmut liegen lassen." Helmut war Tylers über alles geliebte Mütze, sein Ein und Alles. So bescheuert das auch klingen mochte, sie hieß tatsächlich so. Er trug sie immer und überall. Mal abgesehen vom Schlafen und Duschen oder wenn einer unserer Lehrer ihn mal wieder anschnauzte, sie gefälligst abzusetzen. Manchmal fragte ich mich, wann und ob er sie überhaupt ab und zu mal wusch, aber es ging nie ein unangenehmer Geruch von ihr aus, außerdem wirkte der einst schwarze Stoff schon ziemlich ausgeblichen. Vermutlich warf er sie abends noch schnell in die Waschmaschine und direkt in den Trockner, damit sie für den nächsten Tag wieder einsatzbereit war.

Da Helmut ihm so viel bedeutete, wunderte es mich, wie er ihn nur vergessen konnte. Und dann auch noch an einem so schrecklichen Ort wie diese Klapsmühle, die sich krankhafter Weise auch noch Schule nannte. Mal im Ernst. Gefängnis oder „Ort der verdorbenen Seelen" wäre weitaus treffender gewesen.

Plötzlich hörten wir mehrere Schüler in nicht allzu weiter Entfernung jubeln. Nach genauerem Hinhören erkannten wir, dass sie „Schlägerei!" brüllten. Und da wussten wir sofort, wo unser verschollener Freund war. Wir gingen dem Geschrei nach bis wir einen großen Kreis erreichten, der von mehreren Schülern gebildet wurde. Es war offensichtlich, dass sich Tyler darin befand, zusammen mit seinem „Opfer".

Hellguys - Die Erben des AdlersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt