6.3

57 5 5
                                    

Andy McLary

Den restlichen Vormittag verbrachten wir dann damit, ständig auf die Uhr zu schauen, während wir darauf warteten, dass sie uns irgendwann das Ende des Schultags verkünden würde. Doch wie es eigentlich immer war: je öfter man nach der Uhr sah, und je mehr man sich das Ende der Schulstunden herbeisehnte, desto länger schien die Zeit zu verstreichen.

Mal abgesehen von dem erfolgreichen Mathetest kamen wir überhaupt nicht mit unserer neuen Situation zurecht. Dass wir auf einmal alles perfekt sehen und hören konnten, sollte uns den Alltag doch eigentlich viel einfacher machen. Stattdessen schien uns dieser ungewohnte Zustand nur zu überfordern. Ständig erschraken wir, wenn jemand in unserer Nähe plötzlich aufschrie (was in den Pausen sehr häufig passierte) oder wir, wenn es ganz leise im Klassenzimmer war, die Stimmen des Lehrers von nebenan wahrnehmen konnten. Einmal, in der Pause zwischen Biologie und Englisch, hatte mich auf einmal ein starkes Schwindelgefühl überkommen, sodass ich mich erst einmal setzen musste. Mein Körper hatte sich noch nicht an seine neue Lage gewöhnt. Und ich noch weniger.

Aber die Seh- und die Hörkraft waren nicht das Schlimmste. Unsere körperliche Stärke war es, denn diese war so unbändig, dass wir keine Ahnung hatten, wie weit wir gehen durften, oder besser gesagt konnten. Mein zerbrochener Kugelschreiber vor dem Mathetest war noch das kleinste Problem gewesen. Denn die größten Schwierigkeiten bekamen wir am Nachmittag im Basketballtraining. Wir hatten uns gar keine Gedanken darum gemacht, wie unser Training ab sofort für uns ablaufen würde, schließlich vergaßen wir ständig, wozu wir nun fähig waren. Denn wenn man den ganzen Schultag nur herumsaß, wurde der Körper nicht besonders beansprucht, beim Sport allerdings schon. Was wir jedoch nicht beachtet hatten.

Wir hatten gerade erst mit dem Training begonnen. Die Aufwärmübungen stellten keine großen Probleme dar, denn unser Coach ließ uns lediglich einige Runden in der Turnhalle joggen. Allerdings fiel mir bei dieser gewöhnlichen Aktivität auf, wie viel leichter sie mir erschien. Ich meine, ich hatte schon zuvor eine recht gute Ausdauer gehabt, die von dem vielen Sport einhergingen, aber noch nie war ich so leichtfüßig gelaufen, wie jetzt. Ich lief und lief in einem Tempo, dass ich sonst nie so lange hätte durchhalten können. Ich begann nicht einmal richtig zu schwitzen, was bei Coach Curnel überhaupt nicht gerne gesehen wurde. Während die anderen aus meinem Team gemächlich joggten überholte ich sie zweimal und das so beschwingt wie noch nie. Alex und Tyler erging es ähnlich wie mir. Wir bekamen neckende Kommentare zugerufen, wir sollen gefälligst nicht so angeben, was mich zum Lachen brachte. Wenn die nur wüssten.

Nach dem Aufwärmen hatten wir Teams gebildet und nachdem wir gerade erst mit dem Spiel begonnen hatten, gingen die Probleme los.

Tyler, der im gegnerischen Team war, bekam den Ball, wollte sofort zum gegenüberliegenden Korb sprinten, doch dann geschah es. Der Ball zerplatzte in seiner Hand. Alle blieben geschockt stehen und starrten Tyler entgeistert an. Immerhin hatte so ein Basketball eine sehr robuste Struktur, der einiges aushalten konnte. Es war schlichtweg unmöglich, dass er in einer bloßen Hand platzen könnte.

Unser Coach jedoch blieb gelassen und meinte, der Ball würde wohl schon zuvor Schäden gehabt haben, warf uns einen neuen zu und schrie, wir sollten nicht so dumm rumstehen und gefälligst mit dem Spiel weitermachen.

Tyler warf Alex und mir einen erschrockenen Blick zu und kam schnell zu uns gerannt. „Ich habe überhaupt nichts getan, ich versteh das nicht!"

„Du hast ihn wohl zu fest geprellt", entgegnete Alex schulterzuckend.

„So können wir doch nicht weiterspielen! Wenn ich ihn wiederbekomme, wird es bestimmt genauso enden!"

„Ach was", sagte Alex, der das irgendwie überhaupt nicht so ernst nahm. Offensichtlich war er bereits so sehr im Spielfieber, dass er unmöglich aufhören wollte. Unser Coach würde uns ebenfalls nicht einfach ohne ersichtlichen Grund nach Hause gehen lassen. „Pass einfach das nächste mal besser auf."

Er würde es noch bereuen, Tyler nicht ernst genommen zu haben. Kurz darauf bekam auch Alex den Ball zugespielt. Er warf ihn zu Dan aus unserem Team, um sich eine gute Position nahe dem gegnerischen Korb zu erhaschen. Dan passte ihn wieder zurück an Alex. Es war die perfekte Gelegenheit, denn vor dem Korb waren nur wenige aus dem anderen Team, die Alex daran hindern konnten, einen Punkt zu machen. Gekonnt spielte er sich an ihnen vorbei und setzte daraufhin zum Sprung an. So vertieft wie er in das Spiel war, hatte er seine Stärke natürlich komplett vergessen. Selbst ich dachte nicht mehr daran. Alles schien wie immer zu sein. Mit seiner beachtlichen Größe hatte er nie Probleme, mit einem Satz den Korb zu erreichen. Auch diesmal nicht. Dynamisch wuchtete er den Ball in das runde Netz.

Und augenblicklich wurden wir uns unserer Stärke wieder bewusst. Es krachte und der Korb löste sich von seinem weißen Brett. Mit einem Knall landete er auf dem Boden. Alex verlor bei seiner Landung vor Schreck den Halt und flog direkt neben den Korb. Ich keuchte und merkte kurz darauf, dass die anderen ähnlich reagierten.

Sofort rannte ich zu ihm und half ihm wieder auf. Wir starrten uns beide mit demselben Gesichtsausdruck an. Schock.

Coach Curnel erreichte uns und sah mit den Händen in die Hüften gestemmt zu dem Korb hinab. Er schnaubte tief aus und warf energisch seine blaue Kappe auf den Boden. „Das darf doch nicht wahr sein!"

Alex, Tyler und ich tauschten verunsicherte Blicke miteinander. Wie sollten wir ihm das nur erklären?

„Zuerst der kaputte Ball und jetzt das!" Coach Curnel war außer sich. Jeden Moment würde er Alex anschreien und ich suchte fieberhaft nach einer guten Rechtfertigung.

„Das wollte ich nicht, ehrlich", stammelte Alex, doch er wurde sofort unterbrochen.

„Da hat doch tatsächlich einer unsere Halle sabotiert!", schrie er wütend.

Mit großen Augen sah ich unseren Coach an. Mein panischer Herzschlag beruhigte sich augenblicklich und Erleichterung überkam mich.

„Das werde ich sofort dem Direktor melden! Das kann's ja wohl nicht sein! Irgendjemand versucht uns vom Training abzuhalten, damit wir beim nächsten Spiel versagen. Aber nicht mit mir!" Er erhob seinen Zeigefinger und blickte feurig in die Runde. „Keine Sorge, Jungs. Ich regle das!" Und schon marschierte er zum Turnhallenausgang. „Ihr geht jetzt nach Hause, aber dafür werdet ihr das Training in euren Köpfen weiterführen! Das nächste Training wird nach wie vor stattfinden!" Und damit war er aus der Halle verschwunden.

Diese ereignisreiche Basketballstunde ließ uns alle drei in großer Verzweiflung zurück. Würden wir denn jemals wieder Basketball spielen können, so wie früher? Würde überhaupt etwas wieder so werden, wie früher? Ich musste zugeben, dass ich stark daran zweifelte. Denn diese Fähigkeiten waren nun mal da und sie würden wohl kaum von heute auf morgen wieder verschwinden. 


Hellguys - Die Erben des AdlersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt