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Alex Carter

„Ihr lebt in einem Waisenhaus?", rief Andy ungläubig aus, während wir durch einen dichten Wald schritten. Er war anders, als der Wald an unserer Stadt. Anders, als jene anderen Wälder, die ich jemals zuvor gesehen hatte. Die Bäume hier wuchsen wild und spielerisch umher. Völlig unbefangen weiteten sie ihre gigantischen Wurzeln weiträumig über dem Boden aus, verwebten sich mit ihren Verwandten und erschufen somit ein absolut wildes, aber dennoch entspanntes Bild der Natur. Bei uns Zuhause war es der komplette Gegensatz. Denn dort wuchsen die Pflanzen wie in Reih und Glied und in geordneter Ansammlung, während man sich hier wie in einem prähistorischen Urwald fühlte. Und um genau zu sein, war er das ja auch. Die Luft war unglaublich frisch und der Geruch von feuchtem Moos und unbekannten exotischen Blumen begegneten meiner Nase. All das löste ein unglaubliches Glücksgefühl aus, ein Gefühl der Freiheit und Ungezwungenheit.

„Ja, haben wir das etwa vergessen zu erwähnen?" Lexin lachte verlegen, während sie beschwingt über gigantische Wurzeln kletterte. Dafür benötigte sie teilweise ihre Hände, um sich hinaufzuziehen, so riesig waren sie. Sie schritt vorneweg und führte uns den Weg, während Nelio hinter uns ging. An ihrem Strahlen bemerkte ich, dass sie sich hier in Pangäa viel wohler fühlte, als auf der Erde. Während sie dort stets eine flaue Miene aufgesetzt hatte, sprühte sie jetzt nur so vor Lebhaftigkeit. „Nun ja, ich bin eine Waise und nachdem Nelio seine Familie verloren hatte, war er es quasi auch. Shanzo, unser Meister, der uns alles über das Hybridleben beigebracht und sämtliche Künste gelehrt hat, ist gleichzeitig auch der Betreuer des Waisenhauses. Er hat uns damals aufgenommen."

„Wie ist er denn so?", fragte ich und schob einen herannahenden Ast beiseite.

„Ähm... er ist ein bisschen speziell... aber sehr geduldig und einfühlsam. Einen besseren Lehrer als ihn könnte ich mir nicht vorstellen."

Speziell? Ich merkte, dass es besser sei, nicht weiter nachzufragen. Immerhin würden wir ihn in kurzer Zeit selbst kennenlernen.

„Das heißt, in dem Waisenhaus gibt es einen Haufen herumtollender Kinder?", kam es genervt von Tyler, der ein Stück abseits von uns ging. Es war der erste Satz, den er von sich gab, seit seiner vorigen Auseinandersetzung mit Nelio. Nachdem er nach einer Weile wieder aus seinem Versteck hinter einigen Bäumen aufgetaucht war, hatte er kein Wort mehr an uns gewandt. Stillschweigend war er uns gefolgt, als wir unseren Weg fortführten und hatte seither durchgehend geschmollt. Zum Glück zeigte Nelio Taktgefühl und ließ ihn in Ruhe. Provokationen würden nämlich alles nur noch schlimmer machen und da er sich gerade in seiner Beruhigungsphase befand, war es das Beste es einfach dabei zu belassen. Nichtsdestotrotz empfand ich eine leichte Schadenfreude angesichts der Abreibung, die Nelio ihm verpasst hatte. Er war zwar mein Freund, aber sein Ego hatte schon seit längerem einen Kratzer nötig gehabt.

Lexin war einen Moment still und schien mit ihrer Antwort zu ringen, was mich verwunderte, da es schließlich keine persönliche Frage gewesen war, obwohl Tyler sie gestellt hatte. Vielleicht hatte es ja an seinem Ton gelegen, immerhin hasste er Kinder wie die Pest.

Zu seinem Übel antwortete Nelio darauf. „Nicht mehr so viele wie früher." Es war eine schlichte Erwiderung, doch sein Tonfall bedeutete uns, dass dieses Thema hiermit beendet sei. Tyler achtete nicht weiter auf ihn und tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört.

Ich wunderte mich nicht länger über Nelios und Lexins merkwürdigem Verhalten, da wir inzwischen aus dem Waldstück getreten waren und sich vor uns eine kleine Burg auftat.

„Darf ich vorstellen", rief Nelio plötzlich in total freudigem Ton, sodass nichts mehr von seiner eben noch verschlossenen Art zu hören war. „Unser Zuhause."

Für ein Waisenhaus erschien es mir recht groß, außerdem hatte ich mir keineswegs eine Burg vorgestellt. Ein einfaches Haus vielleicht mit mehreren Zimmern. Dennoch war sie nicht so atemberaubend, wie man es von Burgen oft gewöhnt war, stattdessen war sie eher schlicht und keineswegs pompös. Vier runde Türme, die mit blauen Ziegeln bedacht waren, erhoben sich jeweils an ihren vier Ecken und in ihren robusten Wänden prangten große Rundbogenfenster. In der steinernen, grauen Mauer lag ein hohes Eichentor, das sich plötzlich mit lautem Quietschen öffnete, kaum waren wir aus dem Wald getreten.

Hellguys - Die Erben des AdlersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt