Alex Carter
Shanzo ließ sich von unseren verwirrten Mienen nicht beeindrucken und bedeutete uns fröhlich, ihm zu folgen. „Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen heute noch mit den ersten Vorkehrungen eures Trainings beginnen!" Als er bereits auf die Burg zu stolzierte, zögerten meine Freunde und ich noch. Doch Lexin pfiff uns ungeduldig zu und gab mir einen kleinen Schubser in den Rücken, um mich fortzubewegen. Unschlüssig folgten wir Shanzo, traten durch das Eichentor und gelangten in einen dunklen Korridor. An den steinernen Wänden hingen Öllampen aus Messing, die den langen Raum nur mäßig beleuchteten. Der Boden war, nicht wie die Wände aus Stein, sondern mit hölzernen Dielen ausgelegt, die von unseren Schritten leise knarrten.
„Das hier soll ein Waisenhaus sein?", fragte Andy und blickte skeptisch den Korridor entlang.
„Ganz recht", entgegnete Shanzo. „Einst war das hier der Wohnsitz einer sehr angesehenen Adelsfamilie. Die Burg war lange Zeit unbewohnt und nach langen Renovierungsarbeiten habe ich sie vor einigen Jahren zu einem Waisenhaus umgestaltet. Die bewohnbaren Zimmer liegen allesamt im ersten und zweiten Stock. Hier im Erdgeschoss befinden sich Küche, Esszimmer, Gemeinschafts- und Trainingsräume."
„Wird das jetzt so 'ne Art historische Rundführung?", flüsterte Tyler mir genervt zu. „Ich hasse Geschichte..."
„Natürlich wird es das", mischte sich Lexin ein, die aus dem Nichts hinter uns aufgetaucht war, bevor ich die Möglichkeit hatte, zu antworten. „Shanzo legt äußerst großen Wert auf die Vergangenheit seiner Burg."
Erschrocken drehten wir uns zu ihr um.
„Wie hast du das gehört?", fragte Tyler verdutzt. „Du warst doch ganz hinten mit Lockenko-... deinem Bruder."
Lexin rollte mit den Augen. „Schon vergessen? Ich bin der Hybrid einer Raubkatze. Nicht nur Adler haben ein gutes Gehör."
„Sehen kannst du dann auch so gut, nicht wahr?", vermutete ich neugierig.
„Und bestimmt noch ganz andere Dinge", grinste Tyler und mir drohte schon, was nun kommen sollte. „Wenn du wütend wirst, fährst du dann deine Krallen aus?"
Ich wollte ihm gerade erneut eine Schelle verpassen und mich für sein unangebrachtes Verhalten entschuldigen, doch Lexin kam mir zuvor. „Nicht nur das. Ich kann auch meine Säbelzähne ausfahren, wenn mich jemand provoziert", konterte sie mit einem boshaften Lächeln.
Ich lachte laut auf, woraufhin sich die anderen verwundert zu uns drehten. Tyler hielt verblüfft inne und suchte nach Worten. Aber bevor er sich eine erneute anzügliche Antwort ausdenken konnte, sprang plötzlich etwas langes, Haariges über uns hinweg und landete direkt auf seinem Kopf.
Tyler brüllte angewidert auf und machte Anstalten, das Ding von seinem Kopf zu reißen, doch Shanzo war sofort zur Stelle.
„Rühr dich nicht!", rief er und streckte langsam einen seiner bulligen Arme nach Tylers Kopf aus.
Tyler hielt inmitten seiner Bewegung inne. „Soll das ein Witz sein?! Was ist das? Das ist verdammt schwer, Mann!"
„Und groß!", pflichtete Andy ihm bei, was Tyler nicht gerade besänftigte.
Ein braunes längliches Tier hatte es sich auf Helmut bequem gemacht und starrte die fremden Neuankömmlinge durch schwarze Knopfaugen neugierig an. Beschwingt schwang sein buschiger Schwanz dabei an Tylers Wange hin und her.
„Ist das ein Marder?", fragte ich verwundert. Wobei ich noch nie einen so großen Marder gesehen hatte. Er musste fast einen Meter lang sein.
„Eine Art davon, ja", bestätigte Nelio. „Ein Seenerz."
„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst meine Gäste nicht belästigen, Whiskers", sagte Shanzo tadelnd und streckte seinen Arm zu ihm hin. „Komm her, du Halunke!"
Der Seenerz schnupperte kurz an Shanzos Hand, dann sprang er von Tyler ab. Wie eine Schlange glitt er Shanzos Arm hinauf und legte sich um dessen Nacken. Nachdem er es sich darauf bequem gemacht hatte, sah er aus, wie der Pelzkragen mancher alter Frauen.
„Das ist Whiskers", stellte er uns das Tier vor, während er das kleine Köpfchen an seiner Schulter streichelte. „Ich habe den Armen vor zwei Jahren vorm Sterben gerettet. Seine Mutter hat ihn verstoßen und ich habe mich um ihn gekümmert. Seitdem lässt er mich nicht mehr alleine."
„Ist er ausgestorben?", fragte Andy unnötigerweise.
„Auf der Erde, ja. Hier natürlich nicht", antwortete Shanzo geduldig. Es gibt ihn noch nicht lange in Pangäa. Ich glaube die Menschen haben ihn gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ausgerottet."
„Warum haben sie ihn ausgerottet?"
„Sie wollten sein Fell. Da er ein sehr großer Nerz ist, bekommt man recht schnell einen Pelz aus ihm zusammen." Sein trockener Tonfall zeigte nur sehr gut, wie er über diese Sache dachte.
Betreten sah ich zur Seite. Obwohl ich für das Ausrotten dieses Seenerz nicht verantwortlich war, fühlte ich mich dennoch schuldig. Immerhin waren es die Menschen meiner Heimat, die für seinen Tod verantwortlich waren. Eine unschuldige Tierart auszurotten, nur um eigene Bedürfnisse zu stillen. Wie egoistisch die Menschen doch waren.
„Machen die Menschen hier in Pangäa auch Pelze aus ihnen?", fragte ich besorgt.
Shanzo schüttelte den Kopf und lachte dann, als er unsere Mienen bemerkte. „Macht euch keinen Kopf. Den Tieren hier geht es gut. Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist hier enger als bei euch." Dann wandte er sich einer hölzernen Tür auf der rechten Seite des Korridors zu. „Wir haben einen der Trainingsräume erreicht. Hier drin wird der Großteil eures Trainings stattfinden." Von irgendwoher zauberte er einen gigantischen Schlüsselbund hervor und drehte ihn stirnrunzelnd in seiner Hand, offenbar suchend nach dem richtigen Schlüssel. Whiskers sah ihm dabei neugierig zu, als wolle er ihm bei der Suche behilflich sein.
„Wozu die vielen Schlüssel?", fragte ich skeptisch. „Sie sperren doch nicht etwa die Kinder ein?"
Er lachte. „Natürlich nicht. Aber diese Burg hat eben sehr viele Räume und da gibt es für jeden einen Schlüssel. Ich kann mir aber nie merken, welcher zu wessen Zimmer gehört. Sie sehen alle fast gleich aus."
„Wieso schließen Sie denn die Räume dann überhaupt ab?", wollte Andy wissen.
„Die meisten sind immer geöffnet. Nur die Trainingsräume schließe ich stets ab. Nicht dass meine Kinder auf dumme Gedanken kommen und ohne meine Erlaubnis gegeneinander kämpfen." Er lachte nervös, als wäre ihm genau das schon passiert.
Warum entfernt er dann nicht einfach die übrigen Schlüssel, die er nicht benötigt?, überlegte ich verwirrt.
„Kämpfen?" Andy starrte ihn entgeistert an und seine Stimme schlug automatisch mehrere Oktaven höher.
Statt eine Antwort zu geben, steckte Shanzo einen Schlüssel in das Schloss, den er offenbar für den Richtigen hielt. Zu seiner Freude öffnete sie sich und fröhlich trat er ein.
Es war ein großer Raum mit sehr hohen Wänden, den wir nun betraten. Zu beiden Seiten erstreckten sich hölzerne Säulen und das dämmernde Abendlicht schien zwischen den Bäumen durch hohee Fenster hinein. Am anderen Ende standen und lagen merkwürdige Dinge auf einem Haufen, die wohl für Trainingszwecke genutzt wurden. Auch Waffen waren darin. Pfeile und Bögen, Äxte, Messer und Speere. An der linken Wand waren Zielscheiben drapiert, in denen bereits mehrere dieser scharfen Waffen steckten. Außerdem standen im ganzen Raum mehrere merkwürdige Gerätschaften. Eines davon erinnerte mich an diese Holzdummys, die man aus Kung Fu Filmen kannte. Nur war dieser nicht aus Holz, sondern aus Eisen. Es war in etwa so groß wie ein Mensch und mehrere künstliche Arme und Beine waren daran befestigt, sodass es einen hypothetischen Gegner darstellte. Ich stellte es mir sehr schmerzhaft vor, auf dieses Eisen einzuschlagen, aber andererseits würde Holz nicht viel aushalten. Immerhin waren selbst meine Freunde und ich bereits in der Lage, einem Baum erheblichen Schaden zuzufügen. Und wer weiß, wozu dieser Shanzo fähig war...
„Darf ich vorstellen? Unser Trainingsraum", rief Shanzo stolz aus und breitete die Arme aus. „Ich glaube, die Antwort auf deine Frage hat sich erübrigt, Andy."
Andy, der mit offenem Mund das Waffenarsenal anstarrte, nickte nur wortlos.
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Hellguys - Die Erben des Adlers
FantasyNichts wird mehr wie vorher sein. In nur einer Nacht verändert sich das ganze Leben von Alex, Tyler und Andy durch eine Begegnung mit einem längst ausgestorbenen Adler. Doch ist er wirklich ausgestorben? Die drei Freunde entdecken eine völlig neue W...