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Tyler Houston

Er musste schon länger um mich herum gestreift sein, doch ich bemerkte ihn erst, als ich zum Dunking ansetzte. Die späte Abendsonne, die mich davor ständig ungünstig dabei geblendet hatte, war urplötzlich verschwunden und über den Korb und dem kleinen roten Basketballfeld zog sich urplötzlich ein gigantischer Fleck. Erschrocken brach ich mitten im Sprung ab, kam dabei unangenehm auf den Boden auf, worauf ich stolperte und unsanft auf dem Hintern landete.

In diesem Moment verschwand der Schatten plötzlich wieder. Verwundert blickte ich in den Himmel hinauf - und glaubte meinen eigenen Augen kaum. Ich musste meine Handfläche als Schild nutzen, um bei der Helligkeit genauer hinzusehen. War es nur die strahlende Sonne, die mich blendete oder sah ich da wirklich das, was ich da zu sehen glaubte? Direkt über mir flog ein gigantischer Adler. Und mit gigantisch meine ich auch gigantisch.

Entsetzt schüttelte ich den Kopf.

Als sei er gerade auf der Jagd, zog er in kleinen Kreisen über mir. Hektisch versuchte ich mich wieder aufzurappeln, wobei ich das riesige Tier nicht aus den Augen ließ. Seine monströsen Flügel schlugen gleichmäßig und beinahe lautlos. Kein Adler der Welt erreichte auch nur annähernd so eine Größe, wie es dieser hier tat. Er musste ungefähr fünf mal so groß sein wie gewöhnliche Adler.

Wie angewurzelt stand ich da. Mein Herz schlug mir gegen die Rippen. Er musste gefährlich sein und seinem Verhalten nach zu urteilen, suchte er gerade nach etwas zu essen. Ich sah mich um und suchte fieberhaft nach einem Versteck. Doch um mich herum befand sich nur Wiese und einige Bäume. Nichts davon war hilfreich.

Angsterfüllt sah ich wieder hinauf zu dem Adler und augenblicklich rutschte mein Herz in die Hose. Er war ein beachtliches Stück näher gekommen. Nun flog er einige Meter tiefer und erreichte damit fast schon einen der großen Kastanienbäume. Ich konnte sein braunes Gefieder sehen, das in dem leichten Wind zappelte und seinen messerscharfen dunklen Schnabel.

Und dann entdeckte ich seine Augen. Seine glühend gelben Augen. Sie starrten mich an, ausdruckslos und undurchdringlich. Er musste es auf mich abgesehen haben. Es kam mir so vor, als wolle er mich genauer betrachten, prüfen, ob ich ihm überhaupt schmeckte. Ich sollte weglaufen, nach Hilfe rufen, doch ich tat nichts dergleichen. Denn ich konnte mich weder bewegen, noch schreien. Ich stand einfach nur da, stocksteif und starrte hinauf zu dem Ungeheuer.

Urplötzlich und gegen meine Erwartungen riss er seinen Schnabel auf und ein markerschütternder Lärm dröhnte durch meine Ohren. Obwohl ich sie mir sofort mit meinen Händen bedeckte, war ich mir sicher, mein Trommelfell könne jeden Moment platzen. Krampfhaft schloss ich die Augen und versuchte den Schmerz zu unterdrücken. Es war klar, dass er mich nun schnappen würde und dies meine letzten Sekunden sein würden. Doch es geschah nichts. Zumindest spürte ich nichts. Mal abgesehen von meinem Herzschlag, der wie Paukenschläge gegen meine Rippen donnerte.

Eine gefühlte Ewigkeit verharrte ich in dieser Stellung. Auch als der Schrei verklungen war, rührte ich mich nicht. Nach einer Weile nahm ich die Hände von den Ohren. Vorsichtig hob ich den Kopf und blickte in den Himmel.

Der Adler war verschwunden.

Ich hatte ihn mir doch nicht etwa eingebildet? Vielleicht hatte ich zu viel Sonne abbekommen. Aber dieser markerschütternde Schrei hatte ja wohl kaum eine Halluzination sein können.

Aber was konnte er hier zu suchen haben, inmitten einer Stadt?

Noch nie hatte ich so einen riesigen Vogel gesehen und ich zweifelte daran, dass er normal gewesen war. Solch ein Monstrum dürfte überhaupt nicht existieren! Was zur Hölle war das, verdammt?!

Endlose Augenblicke stand ich immer noch wie angewurzelt auf dem kleinen Basketballfeld und starrte in den Himmel. Der Adler war nirgends mehr zu sehen. Er war einfach weg. Es war, als wäre er nie dort gewesen.

Ich musste herausfinden, was für eine Art Adler das gewesen sein musste. Nach einem wiederholten erforschenden Blick über den Himmel, bekam ich endlich die Kontrolle über meine Beine zurück und rannte zurück ins Haus. Außer Atem erreichte ich mein Zimmer und klappte sofort meinen Laptop auf. Ungeduldig wartete ich, bis er endlich hochgefahren war. In der Zwischenzeit schaute ich immer wieder aus dem Fenster, während ich nervös auf meinem Schreibtisch herum trommelte. Dabei fiel mir auf, dass in den benachbarten Häusern kein Mensch aus dem Fenster blickte. Sollte nicht in der ganzen Straße Aufruhr herrschen? Immerhin war das ein riesiges Wesen gewesen, das man nicht leicht übersehen konnte. Und allein schon dieser abartige Schrei. Warum war es so totenstill in unserem Viertel?!

Als mein Laptop schließlich hochgefahren war, versuchte ich fieberhaft das Internet nach diesem Adler abzusuchen. Ich gab einfach mal das Wort Adler ein. Sicherlich musste da irgendwo stehen, wie groß sie maximal wurden. Es kamen viele verschiedene Arten im Internet vor. Doch sie waren alle um einiges kleiner, als der, der vor fünf Minuten noch über unserem Garten herum geflogen war.

Eine Sorte stach mir schließlich besonders ins Auge. Der neuseeländische Haastadler. Seine Flügel maßen eine Spannweite von drei Metern. Er war der größte Adler der jemals existiert hatte. Das musste er sein! Doch dann traf mich der Schock. Dieser sogenannte Haastadler war schon seit Ewigkeiten ausgestorben. Es war unmöglich, dass diese Art sich noch herumtrieb. Und dann auch noch mitten in der Zivisation?

Ungläubig starrte ich in meinen Bildschirm.

Nun ja, es wäre doch auch möglich, dass dieser Adler sozusagen wiederbelebt wurde oder ähnliches? Vielleicht hatten irgendwelche Wissenschaftler mit ihrem Wissen an Genetik ihn irgendwie wieder... wieder auferstehen lassen? Und dann war er eventuell aus ihrem Labor abgehauen? Das heutige Wissen könnte das ja eventuell möglich machen. Ich raufte mir die Haare.

Egal, warum und wie dieser Vogel es hierher geschafft hatte. Er war auf keinen Fall normal. Es gab keine Riesenadler mehr. Seit Jahrhunderten schon. Und es war völlig ausgeschlossen, dass seine Ausrottung eine falsche Annahme gewesen sein könnte. So ein Monstrum konnte man nicht übersehen!

Ich klappte den Laptop zu, ging zum Fenster und sah hinaus. Niemand schien sich über das Auftauchen des Adlers irgendwie Gedanken gemacht zu haben, alles war ruhig. Keiner starrte gebannt aus dem Haus, wie ich und niemand hatte die Polizei alarmiert. Auf dem Gehsteig unten auf der Straße lief ein Mann seelenruhig mit seinem Hund.

Vielleicht hatte Jonathan ihn ja gesehen! Ich rannte aus meinem Zimmer und den hallenden Flur entlang, setzte mich auf das glatte Geländer der Wendeltreppe und rutschte hinunter in die Eingangshalle. Jonathan stand immer noch wie ein Volltrottel dort an der Eingangstüre und als er mich entdeckte, setzte er wieder dieses dämliche Lächeln eines verblödeten Teletubbys auf.

„Jonathan! Hast du das vorhin gehört?!", rief ich aufgeregt, während ich das Geländer hinab schlitterte.

„Gehört? Was denn?", fragte er verblüfft und ersetzte sein Schleimergrinsen durch einen verwunderten Ausdruck.

Verwirrt landete ich auf dem Absatz der Treppe. „Ähh... vor etwa einer viertel Stunde?"

„Mir ist nichts Auffälliges zu Ohren gekommen. Von was sprechen sie denn, Mr Houston Junior?"

Ich erstarrte. Er hatte diesen Schrei nicht gehört? Wie konnte er dieses laute Geschrei nur überhört haben?

Jonathan starrte mich stirnrunzelnd an. Kein Zweifel, dass er glaubte, ich hätte eine an der Klatsche. Aber langsam glaubte ich das auch selbst.

„Vergiss es", murmelte ich und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.

War ich nun vollkommen verrückt? Hatte ich mir den Adler tatsächlich nur eingebildet? Das war unmöglich. Allein dieser Schrei konnte keine Halluzination sein. Der Schrei war doch schmerzhaft gewesen!

Ich lief den gepflasterten Weg zum Stahltor entlang und erreichte die Straße. Skeptisch betrachtete ich unsere Nachbarschaft. Am anderen Ende konnte ich noch den Mann mit seinem Hund ausmachen und in der Villa nebenan goss eine Frau ihre Rosen im Vorgarten.

Ich versuchte den Klos, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunterzuschlucken. Unmöglich. Warum war ich der Einzige der dieses Monster gesehen hatte? Warum hatte niemand diesen Schrei mitbekommen?!


Hellguys - Die Erben des AdlersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt