5.2

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Tyler Houston

Die antike Standuhr in der Eingangshalle zeigte 4 Uhr, als ich endlich nach Hause kam. Wir hatten noch lange Zeit auf der Lichtung gesessen und irgendwie versucht, aus unserer neuen Situation schlau zu werden.

Der Raum war stockfinster, doch ich brauchte den Lichtschalter gar nicht zu betätigen, denn ich sah alles perfekt. Nicht selten war es vorgekommen, dass ich mitten in der Nacht heimgekommen war, die Wendeltreppe im Dunkeln gesucht hatte und dabei mehrmals gestolpert war. Diese Nacht nicht.

Im ersten Moment blieb ich steif in der Eingangstüre stehen. Wenn man sich an einem Ort befand, den man gut kannte, war diese Art, mit der ich plötzlich so gut sehen konnte, noch unfassbarer. Denn man war es gewohnt, die Dinge immer auf dieselbe Art und Weise zu sehen. Nun stand ich da, in einem Raum, der mir sehr bekannt war, durch den ich jeden Tag marschierte und kam mir mit einem Mal vor, als sei ich in ein fremdes Haus eingebrochen. Die Art, wie ich die Halle in der Finsternis auf einmal wahrnahm, machte sie zu einem äußerst seltsamen Ort.

Ich schluckte und schritt auf die Wendeltreppe zu. Wie oft hatte ich die erste Stufe in der Dunkelheit übersehen und war unsanft auf dem Marmor gelandet? Nun zeichnete sie sich so klar vor meinen Augen ab, als wären sämtliche Lichter eingeschaltet, als würde das Tageslicht durch die Glaskuppel scheinen.

Als ich mein Zimmer betrat, fühlte es sich ähnlich fremd an, wie die Eingangshalle. Der weiße Hochglanzschreibtisch an dem großen Fenster, die schwarze Ledercouch daneben, der rote Boxsack in der Ecke des Raumes. Das war tatsächlich mein Zimmer? Es wirkte so anders in der Nacht. So kühl und unbewohnt.

Seufzend kletterte ich die weiße Leiter hoch, die an der hohen Wand entlangführte, bis zu der großen Nische, in der sich mein Bett befand. Das Loch in der Wand war groß, dennoch musste ich meinen Kopf einziehen, um auf mein Bett zuzugehen. Mit einem Stöhnen ließ ich mich ausgestreckt auf die große Matratze fallen und starrte die Decke über mir an, während ich die letzten Stunden Revue passieren ließ. War das heute wirklich passiert? Morgen müsste ich doch aufwachen und alles würde wieder wie vorher sein. Ich würde lachend aufstehen und meinen Freunden von diesem verrückten Traum erzählen, die mir daraufhin den Vogel zeigen würden. Doch dann begutachtete ich meine rechte Faust, die mir zeigte, wie real das alles war. Das Blut daran war schon getrocknet. Ich hätte sie noch waschen sollen, bemerkte ich genervt und überlegte, ob ich jetzt noch den aufwändigen Weg zum Bad nehmen sollte. Was soll's, ich würde doch sowieso nicht schlafen können. Also erhob ich mich und kletterte die Leiter wieder hinab und betrat mein Bad (ja ich hatte ein eigenes Bad, das Leben als Sohn eines reichen Schnösels konnte schon auch ein paar kleine Vorteile haben).

Aus Gewohnheit knipste ich das Licht darin an und erschrak fast schon über die Helligkeit, die plötzlich aufblitzte. Es dauerte einige Zeit bis sich meine neuen Augen an das grelle Licht gewohnt hatten.

Mit dem kühlen Wasser wusch ich meine Hand in dem kleinen Waschbecken. Zuerst erwartete ich einen stechenden Schmerz, als das Wasser auf die Wunde traf, doch ich spürte nichts außer das kühle Nass, welches darüber lief. Das Becken füllte sich mit roter Flüssigkeit, während ich das Blut weg wusch. Nachdem es vollständig in den Abguss gelaufen war, stieß ich einen überraschten Ausruf aus. Da war keine Wunde. Das Blut war weg. Hätten sich darunter nicht eigentlich Aufschürfungen an den Knöcheln befinden müssen? Doch da war nichts. Verwundert inspizierte ich meine Hand, rieb mit den Daumen über die Stelle an der die Haut aufgerissen sein müsste. Kein Schmerz, keine Wunde. Sie war weg.

Keuchend stützte ich mich am Rand des Beckens ab und starrte in den Spiegel. Ich sah aus wie immer, keine Veränderung war darin zu erkennen. Helmut saß noch auf meinem Kopf, meine braunen Haare schauten in kleinen Strähnen zerzaust daraus hervor. An den Spitzen ringelten sie sich ein wenig ein, wie immer, wenn ich schwitzte. Alles schien normal. Abgesehen von den weit aufgerissenen braunen Augen, die mich entsetzt anstarrten. Aber selbst in ihnen konnte man die Veränderung nicht sehen, sie wirkten nicht anders als sonst. Ich entfernte mich ein wenig von dem Spiegel um meinen Oberkörper zu betrachten. Hatte ich vielleicht an Muskelmasse zu genommen? Das würde immerhin meine Kraft erklären, mit der ich vor ein paar Stunden eine Tanne aus ihren Wurzeln gewuchtet hatte. Ich zog mir das schwarze T-Shirt über den Kopf. Auch hier schien alles wie immer. Von dem vielen Training hatte ich breitere Schultern und einen gut gebauten Oberkörper, doch er sah nicht anders aus als sonst auch.

Wieder musste ich auf meine Hand blicken, um sicher zu gehen, dass ich mir das eben nicht eingebildet hatte. Doch sie sah gesund aus. Nicht einmal geschwollen, kein einziger Kratzer. Aber ich hatte doch geblutet! Wo war also die Wunde hin?

Als ich mich schließlich wieder zurück ins Bett legte, war es bereits halb 5. In zwei Stunden würde mein Wecker klingeln. Es war noch unter der Woche. Niemals würde ich jetzt noch schlafen können. Ich spürte noch immer das Adrenalin in mir, das Ereignis heute Nacht würde mich bis zum Morgen noch wachhalten, da war ich mir sicher.

Seufzend blickte ich auf mein Handy. Ich hatte zwei neue Nachrichten, jeweils von Andy und Alex. Ich öffnete sie. Sie hatten in unsere Gruppe geschrieben, die wir zu dritt gegründet hatten. Wir hatten sie die „Anonymen Alkoholiker" genannt. Das war vor einigen Monaten auf einer Party gewesen, an der wir alle drei ein bisschen zu viel getrunken hatten.

Ich kann das alles immer noch nicht glauben, schrieb Andy.

Habe gerade versehentlich meinen Türknauf von meiner Zimmertür abgerissen, hatte Alex geschickt. Werde wohl jetzt mit offener Türe schlafen müssen.

Ein Lachen konnte ich mir nicht verkneifen. Dann überlegte ich, ob ich ihnen von meiner Hand erzählen sollte, überlegte es mir dann aber anders. Ich würde es ihnen morgen früh sagen – oder eher gesagt heute, streng genommen war es ja schon morgens -, vielleicht fanden sie ja wenigstens noch Schlaf heute Nacht.




Hellguys - Die Erben des AdlersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt