"Wieso?" Fragte ich vorwurfsvoll. "Ich will dich nicht kaputt machen." Ich blickte an mir herab und sah ihn dann wieder an.
Ich seufzte schwer und erwiderte matt: "Glaub mir. Ich bin schon kaputt."
"Trotzdem nein. Drogen sind keine Lösung." Ich sah ihn mit kalter Mine und hochgezogener Augenbraue an. "Aha. Wusste gar nicht, dass du so ein Moralapostel bist. Weißt du was? Ich kann auch alleine an das Zeug kommen. Immerhin habe ich ja Geld."
"Aber keinen Respekt. Die werden dich für einen Bonzen halten, deren einzige Probleme sind, dass die letzte Gucci Tasche verkauft wurde." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn ich dort mit einer angeschwollenen Nase, tausenden Narben und etlichen Blutergüssen ankomme, werden sie mich schon annehmen. " Jake lachte kalt auf. "Woher willst du die denn bekommen? Die Nase hast du ja schon. Bist du etwa die Treppe runtergefallen?"
Ich wandte den Blick nicht von seinen Augen ab, als ich sagte: "Die habe ich alle schon. Und -wenn die Faust meines Vaters die Treppe ist- ja." Jake's Augen weiteten sich. "Das hat er dir angetan?" Jegliche Kälte wich seinen Augen. In ihnen spiegelten sich verschiedene Gefühle: Unglauben, Verwirrung, Mitleid und Wut. Unglaubliche Wut.
"Wer weiß davon?" Ich schüttelte den Kopf. "Niemand. Nur meine Mutter." Er presste die Lippen zusammen. Jake holte etwas aus seiner Hosentasche und hielt mir eine Zigarettenpackung hin. "Ich will nicht das du so wirst wie ich. Aber damit kannst du dich wenigstens entspannen ohne ein Junkie zu werden." Ich griff dankbar nach einer von den Zigaretten, während Jake mir ein Feuerzeug hinhielt. Ich atmete einmal tief das Zeug an und fing dann an zu husten. "Okay, ich kann das nicht." Murmelte ich und wollte sie auf den Boden werfen, aber Jake nahm sie geschickt aus meiner Hand. "Das kostet Geld, von dem ich nicht sehr viel habe also, wenn du so lieb wärst und sie nicht fast ungebraucht auf den Boden schmeißen würdest." Meinte er fast schnippisch.
"Tut mir leid." Sagte ich entschuldigend. Ich war wirklich egozentrisch. Ich hatte ganz vergessen, dass Jake nicht reich war. "Aber, wieso hörst du dann nicht auf?" Fragte ich und ließ mich auf einer Treppenstufe nieder. Jake setzte sich neben mich und drückte den Joint aus.
"Weil ich es nicht kann. Genauso mit den Drogen. Denkst du ich würde nicht aufhören, wenn ich es könnte?" Ich schüttelte den Kopf. "Und wieso kannst du es nicht?" Ein kleines Lächeln huschte über Jake's Gesicht. "Du stellst echt viele Fragen. Um deine Frage zu beantworten: Ich habe es mehrmals probiert, aber immer wieder kam etwas, was mich dazu gebracht hat wieder anzufangen. Ich habe Dinge erlebt die man nicht so einfach verarbeiten kann." Erklärte er. "Wer weiß alles wie es dir in Wirklichkeit geht?" Mich interessierte die Antwort wirklich. "Niemand" Ich starrte ihn an. Ich wusste nicht wieso, aber ich fühlte mich so als wäre ich etwas Besonderes.
"Was ist?" Fragte Jake als er meinen Blick bemerkte. "Ich weiß nicht. Seltsamerweise bin ich froh deshalb." Sagte ich wahrheitsgemäß. "Wieso?" Jetzt war er es der fragte. Mein einer Mundwinkel hob sich ganz leicht. "Weil ich dir einzige bin. Das ist seltsam ich weiß. Aber es fühlt sich gut an, nicht eine von vielen zu sein."
"Du bist keine von vielen. Schon immer. Das sieht man in deinen Augen." Ich sah ihn erstaunt an. "Was sieht man in meinen Augen?" Fragte ich mit zittriger Stimme. "Das ist es ja. Man sieht nichts. Und ich weiß aus Erfahrung, dass wenn die Augen Ausdruckslos sind, Schmerz, Trauer und Enttäuschung der ständige Begleiter der Person ist." Sowas weiß man nicht einfach so. Nicht mal Psychologen wissen genau, was hinter ausdruckslosen Augen sind.
"Was ist in deinem Leben schiefgelaufen?" Fragte ich ein wenig taktlos. Aber so war das eben. Bei Jake vergaß ich, dass ich reich und er arm war. Ich vergaß leise, still und zurück gezogen zu sein. Zumindest wenn wir alleine sind.
"Alles. Ich war ein Unfall. Meine Mum starb bei der Geburt, mein Dad hat mich gehasst, weil sie wegen mir gestorben ist. Als ich 9 war, hat er sich selbst umgebracht. Ab da wurde ich herumgereicht. Erst meine Tante zu meiner Cousine zu meinem anderen Onkel. Niemand wollte mich. Dann kam ich ins Heim. Tja, vor 3 Monaten bin ich 18 geworden. Ich bin ausgezogen und jetzt hier. Jetzt erzähl du mir deine Lebensgeschichte. Die echte, nicht die von Wikipedia." Ich lachte leicht, obwohl es ziemlich unangebracht war. Er hatte alles verloren.
"Meine Eltern haben mir mit 3 die Violine in die Hand gedrückt. Seitdem ist sie ein Teil von mir. Aber ein Teil, den ich am liebsten verbrennen würde. Ich hatte schon mit 6 Stücke gelernt, die eigentlich für 14-Jährige gedacht waren. Dabei bin ich gar nicht so besonders. Nur ziemlich gedrillt.
Ich hasse die Violine. Es ist nicht mal ihre Schuld, sie ist eigentlich ein schönes Instrument. Aber, ich wollte nie und will auch immer noch nicht, Violinistin werden." Meine Stimme klang verbittert, als ich erzählte, was schon seit fast 10 Jahren in meinem Kopf rum schwirrte. Ich hatte es niemandem erzählt. Zu groß war die Angst, dass meine Eltern es erfahren könnten. Sie würden mich wahrscheinlich zu einem Psychologen schicken, der mir einreden soll, ich müsse das tun, was meine Eltern sagen. Wahrscheinlich würden sie sogar Elektroschocks benutzen, dachte ich bitter. Wie ein Mädchen vor 100 Jahren in der Psychiatrie.
"Und was willst du?" Riss mich Jake's melodische Stimme aus meinen Gedanken. Ohne an die Nachfolgen zu denken sagte ich mit fester Stimme: "Zeichnen, Malen. Ich will Künstlerin sein."
Bei dem Gedanken, wie ich eine verwirrte Frau, mit lauter Farbe im Gesicht, durch ein Atelier laufe, musste ich kurz lächeln. Das war ich. Ein Tollpatsch. Vielleicht sogar eine Kunstlehrerin die immer wie eine verrückte ruft: "Ihr müsst kreativ sein, Kinder. Kreativ!" Und Selbstgespräche führt. Die Schüler würden sich immer über meine Verwirrung und Verrücktheit lustig machen.
Ich schüttelte den Kopf. Das würde nie passieren. Stattdessen werde ich in einer riesigen Villa wohnen, einen Mann heiraten den ich nicht liebe, immer zu Konzerten gehen und meine Kinder werden mich hassen. Höchstwahrscheinlich werde ich immer heimlich die Pille nehmen, damit ich keine Kinder kriegen muss, die genauso leiden werden wie ich.
"Woran denkst du?" Ich sah Jake in die Augen. Wie konnten Augen so unglaublich schön sein? "Die Zukunft. Die Zukunft die für mich ausgesucht wurde." Eine kleine Träne stahl sich aus meinem Auge. "Ich weiß, dass es nicht einfach ist daraus zu kommen. Aber vielleicht solltest du sobald 18 bist, einfach abhauen." Jake sprach ruhig, er wollte nicht das ich ausraste. Ich schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden. "Sie werden mich finden. Und zurückholen. Du weißt nicht wie manipulativ sie sind. Sie werden der Presse sagen ich wäre entführt worden. Niemand würde Zweifel haben und wenn doch, dann würden sie sein Mund entweder mit einer Knarre oder Geld stopfen." Sagte ich verbittert.
"Vielleicht solltest du einmal genau das sagen, was du mir sagst. Du würdest vielleicht Personenschutz kriegen. Oder du könntest deinen Vater wegen Körperverletzung und Missbrauch anzeigen und deine Mutter wegen unterlassener Hilfeleistung. Dein Vater kann bis zu 5 Jahre Haft kriegen deine Mutter bis zu 1 Jahr. Und selbst wenn ihre Super-Anwälte sie da raushauen, würden sie eine Geldstrafe kriegen. Vielleicht sogar eine Anordnung, dass sie dir nicht näher als 100 Meter treten dürfen." Daran hatte ich schon oft gedacht. "Sie sind meine Eltern." Sagte ich mit erstickter Stimme. Dann begannen die Tränen zu fließen genauso wie der Regen der langsam eingesetzt hat.
Ich hätte von Jake etwas wie: "Eltern schlagen ihre Kinder nicht", von Jake erwartet. Stattdessen legte er seine Arme um mich und wärmte mein eiskaltes Herz. Trotz des eiskalten Regens, dem harten Boden und dem stürmischen Wind, fühlte ich mich geborgen. Und das nur wegen einer Umarmung.
DU LIEST GERADE
Play it
General FictionErins Leben ist schon perfekt durchgeplant, als plötzlich Jake darin auftaucht und alles ziemlich durcheinander bringt. Zum ersten Mal lernt Erin, was es bedeutet zu leben, ohne Regeln zu befolgen und nur an die Zukunft zu denken. Zum ersten Mal le...