Abschied

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Erschöpft schleppte er sich ins Haus. Er fragte sich, ob es Ronja besser ging, ob sie bald genesen würde.
Seine Haut war übersät mit Narben. Sein gesamter Körper zitterte und sein Atem war schnell und unregelmäßig.

„Du hast lange gebraucht.", hallte es aus dem Wohnzimmer.
Jonathan presste die Lippen aufeinander. Diese kleine Göre hatte ihm noch gefehlt. Nachdem sie sich ihm so gegenüber benommen hatte, wollte er ihr am liebsten mal seine Meinung geigen. Doch das würde nichts bringen. Ohne Ihr Wissen würde er sein Herz nicht wieder bekommen.
„Mir kam noch jemand dazwischen.", er verdrehte die Augen, „Hast du ihr.."
„Ja um Punkt 12."
Es kehrte Stille ein.
Ronja lag friedlich auf dem Sofa und schlief, Gwendolyn saß auf der Lehne und wackelte erstaunlich munter mit den Beinen.

„Naja.. Dann kommt jetzt wohl die Zeit, in der ich mich bei dir bedanken muss. Naja du weißt schon, für alles und so..", Jonathan wuschelte sich durch seine schwarzen verklebten Haare und schielte zu Ronja rüber.
„Die Zeit ist ebenfalls gekommen, Ronjas Gedächtnis auszulöschen.", flüsterte er erschüttert. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass er Ronja das Gedächtnis auslöschen musste. Es überkam ihn ein unangenehmes und zugleich fremdes Gefühl. Eigentlich wollte er es nicht, doch er musste Ronja vergessen lassen.

„Mensch, jetzt geh erst mal duschen! Oder willst du Blut getränkt deinem Gott unter die Augen treten..", sagte Gwendolyn mit rauer Stimme und schnalzte mit der Zunge. Sie verschränkte die Arme und betrachtete Jonathan mit angewidertem Blick.
Und wieder fing es in Jonathan zu brodeln an. Ganz tief im Inneren fühlte er wieder diese Abscheu, die er versucht hatte zu unterdrücken. Doch Jonathan biss seine Zähne auf einander, ballte die Hände zu Fäusten und stampfte trotzig aus dem Zimmer.
›Was denkt die eigentlich wer sie ist!? Sie ist nur ein kleines Wesen ohne Bedeutung! Dass die mir Befehle erteilt... Unglaublich!‹, energisch riss er die Tür zu Lucas Zimmer auf. Er stürmte an den Schrank, kramte sich ein schwarzes Hemd und eine dunkelblaue Jeans raus und wollte gerade wieder raus hasten. Als er plötzlich stehen blieb und seinen Blick durch das Zimmer schweifen ließ. An der Wand lehnte ein großer Koffer, neben ihm lag eine Reisetasche. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass nur ein dämmriges Licht des Mondes das Zimmer erhellte. Auf dem Bett lag Luca mit geschlossenen Augen. Entspannt wackelte er mit dem Fuß, als er ohne den Blick auf Jonathan zu richten anfing zu sprechen: „Du hast dir also immer meine Kleidung 'geborgt'! Interessant!"
Wie versteinert blieb Jonathan stehen und blickte Luca verwundert an.
„Ich bin nicht dumm, kleiner.", lachte er kurz und setzte sich ruckartig auf. Nun fixierte er mit seinen Augen den schwarzhaarigen Fremden vor sich.

„I-ich, ich.. also ich kann das erk..-"
„Schon gut...", fiel Luca ihm ins Wort. „Ich greife dich doch gar nicht an!"
Luca lächelte und stand auf. Einen halben Kopf ragte Jonathan über Luca hinaus. Dafür war Lucas Kreuz breiter als Jonathans, der zwar großer, dafür auch schlaksiger als er war.
Luca setzte einen Schritt vor und blickte nun tief in die giftgrünen Augen, die eingeschüchtert aufblitzten.

„Ich möchte lieber wissen, wer du bist! Dass du die Aufmerksamkeit meiner Schwester errungen hast...", er hob prüfend die Augenbraue.

„Wenn ich vorstellen darf", Jonathan verbeugte sich leicht, „Jonathan. Der gefallene Engel. Meine Aufgabe lautet, eure Schwester zu beschützen." Nun blickte Jonathan selbstsicher in Lucas Gesicht. „Eigenverschuldet erhielt ich meine Aufgabe vor einigen hunderten Jahren, nachdem ich meine Familie hinter mir gelassen habe." kurz zitterte seine Stimme beim Wort 'Familie', woraufhin er sich schnell wieder fing und ebenfalls einen Schritt nach vorne machte. „Aber ich werde bald wieder aus ihrem Leben treten. Habt keine Angst!"
Langsam erinnerte sich Jonathan wieder, weshalb er überhaupt erst mit Ronja gearbeitet hatte. Wieder kamen die Erinnerungen hoch, die er versucht hatte zu verdrängen. Schlimme Erinnerungen aus seiner Vergangenheit.
Sofort riss ihn Luca wieder ins hier und jetzt. „Schade. Denn ich muss gehen. Einen besser bezahlten Job als diesen erhalte ich nicht mehr, Ronja und ich brauchen das Geld, doch die Arbeit verlangt, dass ich weit weg ziehe.
Ich bitte dich, Ronjas Schutzengel, gib ihr diesen Brief, mir bleibt nicht viel Zeit. Sie ist ja endlich nicht mehr allein", kurzerhand drehte sich Luca weg und starrte zu Boden. Während er nach den Taschen griff meinte Jonathan kurz eine Träne im matten Licht erkannt zu haben. Und schon war Luca durch die Tür verschwunden.

„Er.. Lässt sie einfach alleine?" Sein Blick wanderte auf den Brief in seiner Hand. Er musste sich beeilen!
Hastig drehte er das Wasser der Dusche auf, riss die zerfranste Kleidung von seinem Körper und wusch sich den Schweiß und das Blut von der Haut ab.
„Wenn ich nur für Ronja da sein könnte..", seufzte er. Es gab nichts sehnlicheres, was er sich wünschte, als bei Ronja zu bleiben und sie bis zu seinem Tod zu beschützen und zu ehren.
Sofort sprang er aus der Dusche, trocknete sich und kleidete sich vorsichtig mit der geliehenen Kleidung ein.
Während er runter lief knetete er den Brief in seinen Händen. Ihm war die Nervosität wörtlich ins Gesicht geschrieben. Ein prüfender Blick in den Spiegel ließ ihn zusammen zocken.
Furchtbarer Anblick!
Wie eine Leiche. Strenggenommen war er ja auch Tod.

Langsam schob er sich durch die Tür zum Wohnzimmer und erstarrte. Ihr Anblick ließ sein Atem stocken. Trotz der krankhaften Erscheinung saß Ronja graziös auf dem Sofa. Ihr Lächeln erfüllte den Raum mit Licht und Liebe und ihre Blicke erwärmten Jonathans Haut.
„Da bist du ja!", lächelte sie lieblich und umarmte das Kissen auf ihrem Schoß.

Gefallener EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt