Kapitel 2

1.1K 68 6
                                    

Zayn

Harry führte mich durch die Gänge und hielt schliesslich vor einer Tür. Er ging schnell hinein und kam dann gleich wieder. In der Hand hielte er ein blaues Plastikband, das er spannte und mir hinhielt. Es war schon lächerlich, wie viel Überwindung es mich kostete, meine Hand auszustrecken, damit Harry das Band um mein Handgelenk binden konnte. Zum Glück schien er das schon häufig gemacht zu haben, denn er berührte mich dabei kein einziges Mal. Trotzdem zog ich meine Hand, nachdem er fertig war, schnell zurück. Harry reichte mir einen Stapel Papiere: „Raumplan, Therapieplan etc. Das kannst du dir dann mal in Ruhe ansehen. Oh und was ich dir noch sagen sollte, du wirst einen Mitbewohner haben." Ich erstarrte. Nein. Bitte nicht. Harry seufzte: „Es war nicht meine Entscheidung. Du wirst dein Zimmer mit Niall teilen. Er ist nett und meistens fröhlich, doch er denkt immer, niemand mag ihn, darum verletzt er sich selber. Er kann dir dann auch genauer erklären, wie es hier läuft." Ich nickte. Mein Albtraum. Ich musste mein Zimmer teilen. Ich hatte nichts gegen Teilen an sich, doch mein Zimmer war schon immer mein Rückzugsort gewesen, wo ich alleine sein konnte. Harry führte mich weiter zu einem grossen Aufenthaltsraum und durch einen weiteren Gang. Ein Pfleger kam uns entgegen und Harry sagte erfreut: „Hi, Liam!" Liam lächelte: „Hallo, Harry. Hallo, Zayn." Ich senkte den Blick. „Niall freut sich auf dich", bemerkte Liam, worauf Harry grinsend sagte: „Kann ich mir vorstellen." „Keine Angst", sagte Liam zu mir, „er weiss, dass du fast nicht redest und Angst vor Berührungen hast. Er wird sich zurückhalten." Ich nickte. Harry ging weiter und ich folgte ihm bis zu einer Tür mit der Nummer 77. Meine Lieblingszahl in doppelter Ausführung, was für ein Zufall. Harry ging und ich öffnete zögerlich die Tür. Das Zimmer war glücklicherweise recht geräumig. Gegenüber der Tür war ein grosses Fenster und davor stand ein Streibtisch, andem man locker zu zweit Platz hatte. Links und rechts davon war jeweils ein Bett und davor ein Schrank. Rechts der Tür führte eine zweite Tür wahrscheinlich ins Bad und links war ein Bücherregal, das zur Hälfte gefüllt war. Auf dem Rechten Bett lag ein Junge. Blond mit braunem Ansatz. Kindliches Gesicht. Blaue Augen. Die schönsten Augen der Welt. Schnell senkte ich meinen Blick. „Hi", sagte der Jung mit einer wunderschönen fröhlichen Stimme und irischem Akzent, „ich bin Niall." „Zayn", antwortete ich leise. Ich ging zum linken Bett und legte die Papiere, die mir Harry gegeben hatte auf den Schreibtisch. Ich starrte auf meine Hände, wobei ich total verkrampf auf meinem Bett sass. Niall konnte die Stille nicht mehr aushalten, weshalb er fragte: „Warum kannst du Menschen nicht ausstehen?" „Es ist nicht so, dass ich Menschen nicht ausstehen kann", widersprach ich, „ich komme nur nicht mit ihnen klar. Warum, weiss ich auch nicht so genau." Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Niall nickte. Die Tür ging auf und ein Wächter kam herein. Er brachte meinen Koffer und meine Rucksack herein und ging dann wieder. Ich erhob mich und begann, meine Sachen einzuräumen. Niall sah mir zu und sagte dann: „Es gibt gleich Mittagessen. Du wirst nicht in die Cafeteria kommen, oder?" Panisch schüttelte ich den Kopf. Nur schon der Gedanke an eine überfüllte Cafeteria erfüllte mich mit Panik. „Ich könnte dir etwas mitbringen", sagte Niall. Zögerlich sah ich ihn an. „Das könntest du machen?" Meine Stimme war leiser als ein Windhauch. Niall lächelte: „Klar, was magst du?" „Alles", erwiderte ich. Niall lachte: „Jetzt weiss ich natürlich, was ich dir mitbringen soll. Was magst du am liebsten? Worauf hast du Lust?" Ich überlegte kurz: „Hühnchen." Niall grinste: „Geht klar, dann bringe ich dir Hühnchen." Damit sprang er aus dem Bett, winkte mir zu und verschwand. Meine Güte, jemanden, der so hyperaktiv war wie Niall, hatte ich wirklich noch nie getroffen. Und so viel hatte ich schon lange nicht mehr geredet.

Niall

Bis jetzt kam mir Zayns Sozialstörung gar nicht so schlimm vor. Ich hatte zwar noch nicht soviel davon mitbekommen, aber ich mochte ihn. Ich hüpfte zur Cafeteria, holte mir Essen und setzte mich zu Dan, Lydia, Louis, Liam und Harry an unseren Stammtisch. „Niall? Bist du auf Drogen? Du bist ja noch aufgedrehter als sonst, was 'was heissen will", sagte Dan. Ich lachte und Harry erklärte ihm: „Nein, der Glückliche hat endlich wieder einen Mitbewohner. Wie ist denn Zayn so? Ich habe ihn ja selber getroffen, aber ist ja häufig so, dass sich Patienten Pflegern gegenüber anders verhalten." Ich nickte: „Er scheint einigermassen in Ordung zu sein. Er spricht nicht viel und wenn, dann nur leise und er ist immer total verkrampft, aber in ihm drin steckt ein netter Kerl." „Über wen redet ihr?", fragte plötzlich Louis. „Lou!!", rief Harry und drückte ihn an sich. Die beiden waren ein Paar und wegen Louis hatte Harry überhaupt erst begonnen, Psychologie zu studieren und sein Praktikum hier zu machen. Louis war in einer Art Traumwelt gefangen. Früher war es weniger schlimm gewesen, doch es hatte zugenommen. Bevor er hierhergekommen war, hatte er praktisch gar keine 'wachen' Momente mehr gehabt. Inzwischen war er ungefähr alle zwei Tage für eine Stunde 'wach'. Wenn er in seiner Traumwelt war, bekam er nichts mit und tat alles wie ferngesteuert, doch wenn er da war, war er ein super Freund und ich verstand, weshalb Harry sich in ihn verliebt hatte, auch wenn ich nicht so fühlte. Während die anderen Louis erklärten, was er verpasst hatte, schweifte mein Blick durch die Cafeteria und blieb am Eingang hängen. Konnte das sein. Ich stand auf. „Zayn?", rief ich, während ich auf ihm zuging. Sein panisch umherschweifender Blick fand mich. Seine Lippen formten meinen Namen und trat einen Schritt in die Cafeteria. Doch plötzlich zuckte er zusammen, warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, drehte sich dann um und rannte davon. Ich rannte ihm hinterher. Der Teppich dämpfte seine Schritte, doch ich konnte ihm problemlos folgen. Irgendwann stoppten seine Schritten und als ich um die Ecke ging, sass er mit dem Rücken zur Wand, den Kopf in den Armen vergraben auf dem Boden. „Zayn?", fragte ich vorsichtig, „was ist los, Zayn, warum warst du in der Cafeteria?" Er antwortete nicht, also setzte ich mich neben ihn auf den Boden und schwieg. Was sollte ich tun? Ich hätte Harry oder Liam mitnehmen sollen.

Social DisorderedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt