Kapitel 6

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Zayn

Ich schlug die Augen auf. Wo war ich? Ah, ja, richtig. In der Nervenklinik. Die Tür ging auf und ein gut gelaunter Niall kam herein und stellte das Frühstück auf den Tisch. Er grinste mich an: „Mir kam es so seltsam vor, dass du alleine isst, darum habe ich mein Frühstück auch mitgenommen. Ist das okay?" Ich nickte und setzte mich auf. Ich ging kurz ins Bad und setzte mich dann zu Niall an den Schreibtisch. Schweigen assen wir, als Niall plötzlich fragte: „Wann hast du zum letzten Mal jemanden berührt ohne in Panik zu geraten?" Ich dachte nach. Wann war das gewesen? „Ich weiss nicht mehr so genau, es war ein Prozess und nicht von einem Moment auf den anderen so. Wahrscheinlich meine Mutter", erwiderte ich dann, „so vor ungefähr zwei Jahren." Niall nickte: „Und…hattest du schon 'mal eine Freundin?" Während er das fragte, senkte er den Blick und lief leicht rot an. Ich nickte: „Perrie. Wir haben Schluss gemacht ungefähr ein viertel Jahr bevor…naja, bevor ich gestört wurde." „Du bist nicht gestört", widersprach Niall, „nur auf sozialer Ebene unfähig." Ich lächelte leicht: „Hattest du schon mal eine Freundin?" Er schüttelte den Kopf: „Ich…ich stehe nicht auf Mädchen." Seine Stimme war so leise wie meine. „Schämst du dich?", fragte ich. Ein leichtes Nicken: „Meine Freunde haben sich deshalb von mir abgewandt." „Tu's nicht", sagte ich, „du stehst auf Jungs, na und? Wenn sich deine Freunde von dir abgewandt haben, waren sie es nicht wert, deine Freunde zu sein." Er lächelte leicht: „Meinst du?" Ich nickte: „Ich kann es nicht wirklich gut sagen, aber ich meine damit, es ist egal, auf wen du stehst, es gibt weiss nicht wie viele hetrosexuelle, die einen totalen Dachschaden haben. Die Persönlichkeit leitet sich nicht automatisch davon ab und die ist das, was einen ausmacht." Er lächelte. Irgendwie schien er erleichtert. Wir schwiegen erneut. Nachdem wir fertig waren, klatschte Niall in die Hände: „So, was hast du vor?" Ich schüttelte den Kopf: „Gar nichts. Ich habe schon lange nichts 'richtiges' mehr gemacht." Niall legte den Kopf schief: „Irgendwas musst du aber machen. Komm, wir gehen in den Garten. Um diese Zeit ist dort fast niemand." Ich sah ihn zweifelnd an. „Im Ernst", sagte er, „die meisten sind noch in der Cafeteria. Ausserdem ist der Garten gross. Komm schon! Du brauchst frische Luft!" Ich seufzte: „Ich zieh mich an." Niall begann zu strahlen. Ich ging erneut ins Bedezimmer, diesmal um mich umzuziehen.

Niall

Er kam mit in den Garten! Es freute mich total, dass er mit mir heraus kam. ER kam mit MIR nach draussen. Ich sollte diese Gedanken abschalten. Auch wenn er nichts gegen Schwule hatte, hiess das ja nicht, dass er mich automatisch mochte. Als ich heute morgen aufgewacht war, hatte er noch geschlafen. Selten hatte ich jemanden schlafen gesehen, normalerweise schlief ich total lange und noch nie hatte ich jemand so süssen gesehen. Im Schlaf hatte sich Zayns Anspannung gelöst und er sah friedlich aus. Ich war aufgestanden und hatte nicht widerstehen können. Ich hatte mit den Fingern seine Wange berührt und ein Kribbeln war durch meinen ganzen Körper gegangen. Doch selbst im Schlaf hatte er sich verspannt, weshalb ich mich schnell zurückgezogen hatte, schliesslich wollte ich ihn nicht aufwecken. Nach einigen Sekunden hatte er sich wieder zu entspannen begonnen und einen Moment später war in den vorherigen entspannt schlafenden Zustand zurückgekehrt.

Nun kam er aus dem Bad. Wie konnte man nur so verboten gut aussehen? Schluss damit, Niall!, ermahnte ich mich selbst und sprang auf. Ja, bei mir gab es keine andere Art aufzustehen. Zayn folgte mir schweigend durch die Gänge und in den Garten. Der Garten war wunderschön. Ich führte Zayn in einen Teil, der generell ungestörter war und setzte mich ins Gras. Vorsichtig liess sich Zayn vor mir nieder und lehte sich an eine Birke. Er hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Stumm betrachtete ich ihn. Ich würde erst etwas sagen, wenn er es tat. Er schien zu spüren, dass mir die Stille trotzdem nicht behagte, denn nach einiger Zeit sagte er: „Warum genau bist du eigentlich hier?" „Was meinst du mit hier? In der Nervenklinik oder in dieser Nervenklinik?", erwiderte ich. „Nervenklink generell. Wie ist es dazu gekommen?", fragte er. Ich zog zur Antwort den Kragen meines Pullovers nach unten. Er beugte sich etwas vor, dann weiteten sich seine Augen, als er die Narbe als solche erkannte. „Du hast versucht, dich umzubringen?", es war mehr eine Frage als eine Festellung. Ich zog den Ärmel ebenfalls hoch und verbesserte ihn: „Mehrmals." Er streckte eine Hand aus und liess sie über den zahlreichen Narben schweben. Viele davon waren einfach Striche, doch einige formten das Wort 'Boys'. Das war ungefähr das dritte Mal, das ich mich geritzt hatte. Das erste Mal war passiert, als ich mich in einen Jungen verliebt hatte. Es war wie ein unwiderstehlicher Drang gewesen, der mich dazu zwang, nach der Klinge zu greifen. Ich hatte es selbst nicht akzeptieren können, dass ich auf Jungs stand. Das hatte wahrscheinlich dazu geführt. Die darauf folgenden Male waren als Folge davon geschehen, dass sich meine Freunde von mir abzuwenden begannen. Ich hatte mir 'Boys' in die Haut geritzt, weil sich alles um Jungs zu drehen schien. Eine besonders tiefe Narbe nahe der Pulsader war das Überbleibsel des Versuches, alles zu beenden. Zayn senkte seine Hand noch ein bisschen, doch kurz bevor er mich berührte, zog er sie ruckartig zurück. Er starrte zu Boden. Ich sah eine Bewegung hinter ihm. Als ich genauer hinsah, erkannte ich Dan und Lydia, die auf uns zukamen. „Zayn? Freunde von mir kommen. Ist das für dich okay?", fragte ich. Er verkrampfte sich zwar wieder einmal, doch er nickte. „Halli hallo, Nialler. Du hast uns beim Frühstück gefehlt", begrüsste mich Dan, was ich mit einem Grinsen beantwortete. Dan wandte sich an Zayn: „Ich bin Dan, schön dich kennen zu lernen." Zayn hatte seine Beine angezogen und die Arme darum gelegt. „Zayn:, stellte er sich wie schon mir vor. Erst jetzt fiel mir auf, dass er vorhin nicht mehr ganz so leise gesprochen hatte, doch jetzt war seine Stimme wieder wie am Anfang. Dan deutete auf Lydia: „Das hier ist meine Schwester Lydia. Sie ist Autistin." Zayn nickte und senkte den Blick wieder ins Gras. Plötzlich sprang er wie von einer Tarantel gestochen auf und sagte etwas, das sich anhörte wie: „Muss hier weg!" „Soll ich mitkommen?", fragte ich. Er zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf. Als er weg lief, blieb er noch einmal kurz stehen und sah zu mir zurück, dann ging er. „Seltsamer Junge, aber du hast recht", bemerkte Dan, „in ihm drin steckt ein netter Kerl." Alles, was ich denken konnte, war, dass Zayn mich nicht bei sich haben wollte.

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