11. The Westcoast

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*Westcoast - Lana del Ray*

Es war mein letzter freier Tag, bevor Kate, Phil und die Kinder aus Texas wiederkamen. Es war der erste Dezember, ein Dienstagmorgen. Es war merklich kühler geworden und doch war ich auf dem Weg zum Meer.

Ähnlich wie Sport löste das Meer alle meine Probleme von mir. Ich mochte das Rauschen der Wellen, den salzigen Geruch, das Gefühl von Sand zwischen meinen Zehen.

Ich erklomm die Düne und blieb wie immer überwältigt stehen.

Unendlich erstreckte sich vor mir das Meer. Da es Winter war, war es so gut wie menschenleer: Hier und da liefen Paare händchenhaltend den Strand auf und ab, ein paar Jogger waren ebenfalls unterwegs. Ich zog mir die Schuhe aus und vergrub meine Füße in den kühlen Sand.
Mit geschlossenen Augen genoss ich den frischen Wind, der meine Haare durchwirbelte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit angenehmer Stille öffnete ich meine Augen und ergriff meine Tasche, die ich fallen gelassen hatte. Dann setzte ich meinen Weg zum Meer fort.

Als die ersten Wellen meine nackten Beine umspülten, zuckte ich zusammen. Das Wasser war eiskalt. Winter eben.

Ich musste unwillkürlich lachen. In L.A. war es gerade so noch okay im Winter barfuß an den Strand mit dreiviertel Hose zu gehen, doch in Deutschland wäre es undenkbar gewesen.

Deutschland... Jetzt wo ich alleine war vermisste ich meine Familie so sehr. Ich wickelte meinen Cardigan fester um meinen Oberkörper und band mir eine Decke um meine Beine. Dann nahm ich meine Tasche und ging zu einem der Strandkörbe, die hier kostenlos aufgestellt waren. Ich nahm die Thermoskanne mit heißem Pfefferminztee heraus und goss mir eine Tasse ein. Langsam trank ich und beobachtete das Meer.

Das Meer war fast von Anfang an da. Das Meer würde immer da sein. Das Meer sah von meiner Perspektive unendlich aus - und war doch endlich.

Ich griff zum Handy und löste ein Versprechen ein, dass ich einmal einer wichtigen Person in meinem Leben gegeben hatte.

»Hallo?«

»Howdy, Schwester.«

***

Meine Schwester hatte angefangen zu weinen, als sie realisierte, wer da am Telefon war. Wir hatten anfangs noch regen Kontakt gehabt, doch dann kam sie in die Elfte und ihre Abiturphase begann mehr oder weniger und auch ich hatte hier in L.A. viel zu tun.

Ich hatte mein ganzes Heimweh unterdrückt, auch beim Telefonieren - ich wollte meiner Schwester helfen und nicht mehr Schmerz verursachen, indem ich weinte.

Nachdem sie - oder eher wir beide - uns wieder beruhigt hatten, erzählte ich ihr alles von Justin. Und meine Schwester tat, wofür ich sie liebte: Sie, die kleinere Schwester, die öffentlich immer die Schüchterne war - ich war die Selbstbewusste - und zuhause das weiseste Mädchen, dass ich kannte, sagte mir ihre Meinung - im guten Sinne.

»Hör nicht auf die Hater. Verstell dich nicht. Lass dich treiben und guck, wo du ankommst. Vielleicht am Ende mit Justin, vielleicht ohne ihn.«

Diesen gut gemeinten Rat hatte ich gebraucht. Ihre natürliche, vertraute Art tat mir gut. Meine Familie tat mir gut.

Nachdem auch sie mich auf den neusten Stand gebracht hatte, lachten wir noch eine Weile und sinnierten über alte Zeiten. Als sie schließlich auflegte, fing ich sofort an, sie zu vermissen.

Nur mühsam konnte ich meine Tränen zurückhalten und als es gar nicht mehr ging, fing ich wirklich an zu weinen.

Meine Familie tat mir gut, nur war sie am anderen Ende der Welt.

Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, richtete ich mich entschlossen wieder auf und vertrieb alle düsteren Gedanken an meine Familie. Ich strich mein Haare glatt - nur damit sie der Wind sie im nächsten Moment erneut verwuschelten. Ich schloss die Augen. Ich hatte mich nicht verstellt. Hatte ich nie, wollte ich nie. Doch ich war drauf und dran gewesen mich zu verlieren.

Obwohl verlieren vielleicht das falsche Wort war. Früher in Deutschland war ich Stacy, die Brave, Süße von Nebenan. Hier in L.A. war ich Stace. Einfach nur Stace. Vielleicht war ich auf dem Weg mich zu verlieren - aber nur damit ich mich neu finden konnte.

Lächelnd öffnete ich wieder die Augen und hob den Kopf. Momente wie dieser sollten ewig währen. Am Strand sitzend, nachdenkend, das Wetter genießen.

Und obwohl ich noch immer etwas Heimweh verspürte, beruhigte mich das Meer. Wie immer.

Ich stand auf und band mir schnell einen Turban, damit meine Haare nicht wieder durch mein Gesicht fliegen konnten, dann ließ ich den Strandkorb und meine Sachen hinter mir und ging wieder auf das Meer zu.

Langsam aber sicher füllte sich der Strand.

Ich fröstelte unwillkürlich. War ich im Strandkorb noch einigermaßen geschützt gewesen, so pfiff mir nun der Wind um die Ohren - trotz Turban!- und die Kälte kroch in meine Gliedmaßen.

Eilig floh ich wieder zum rettenden Strandkorb und mummelte mich in eine Decke. Schuhe zog ich ebenfalls wieder an, dann nahm ich mir erneut die Thermoskanne.

Ich trank ein paar Schlucke, doch dann lullte mich die Wärme ein und ich spürte, wie meine Lider schwer wurden.

Schnell stellte ich mir mit schweren Händen noch einen Wecker auf zwölf Uhr, dann glitt ich in das Land der Träume.

***

Ich schreckte hoch von einem schrecklichem Piepen, das neben meinem Ohr regelmäßig erklang und fiel fast aus dem Strandkorb. Moment, Strandkorb? Für eine Millisekunde war ich verwirrt, denn ich war am Strand - dann erinnerte ich mich an meinen kleinen Ausflug und musste unwillkürlich lächeln. Ich war wirklich am Strand!

Das Piepen ging wieder los und hätten Blicke nicht nur töten, sondern auch elektrische Sachen entladen können, mein Handy wäre längst auf dem Schrottplatz gelandet.

Oder in einem Museum für alte Handys, so alt wie meins war.

Egal, wie die Tatsachen aussehen, man muss alles mit Humor nehmen, dachte ich bei mir und schlug die Decke zurück, nicht bevor ich nicht endgültig den Wecker ausgestellt hatte.

Das Decke-Zurückschlagen sollte ich nicht mal eine Sekunde später bereuen:

Erstens bohrten sich tausend Nadelstiche in meine eingeschlafenen Beine,

Zweitens war es bitter, bittter, kalt - ›Was nein, es war Mittag, der wärmste Zeitpunkt des Tages? - und ich fror ohne Ende,

Und drittens ergoss sich ein Schwall nun kalter Tee aus der offenen Thermoskanne über mich und mein Handy, das aber schon Waschmaschinengänge - oh, wunder! - überstanden hatte, also das bisschen Tee auch noch aushalten musste.

Ich packte meine Sachen und lief zum Auto zurück, wo ich zunächst einmal die Heizung und das Radio hochdrehte.

Westcoast von Lana del Ray ertönte aus den Lautsprechern: Mein absoluter Lieblingssong im Moment, gesungen von einer hammermäßigen Sängerin.

Ich konnte nicht an mir halten und sang lauthals mit.

You Smile? I Smile! (jdb♕)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt