Metapher

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Als ich gegen Nachmittag aufwache, weilt mein erster Blick auf mein Keyboard, das seit längerem etwas verwahrlost wird.

Es hat Zeiten gegeben, an denen ich schon sehr früh morgens an ihr saß, ja mein Keyboard ist weiblich. Die Melodien, der Text, alles flog mir zu. Ich schrieb und komponierte den gesamten Tag. Abends war dann meist ein Lied so weit fertig, dass ich es den anderen vorspielen konnte.

Diese Zeit ist kein Monat her. Es ist eine Woche her, seit dem Vorfall im Krankenhaus. Seither liege ich den gesamten Tag im Bett oder sitze emotionslos auf dem Sofa und versuche nicht an Liv zu denken.

Ich merke, wie sich jemand auf meinem Bett fallen lässt und sich an meinen Rücken schmiegt. Als ich mich umdrehe, schauen mich haselnussbraune Augen an. Das schwarze Haar dieser Person ist glatt gekämmt. Schuldbewusst mustert mich Joe. „Ich bin mir absolut sicher, dass du bald wieder einen Hit für uns schreiben wirst, Nick". Nun merke ich wie sich von der anderen Seite noch ein warmer Körper an mich schmiegt. Diesmal drehe ich mich auf den Rücken und schaue über die Schulter. Kevins Locken liegen wirr in seinem Gesicht, aber auch er schaut zuversichtlich.

„Es ist derzeit auch eine schwierige Zeit für dich, kleiner Bruder". Verspielt streicht er mir durch die Haare. „Gut gesagt, Bruder", lobt Joe Kevin und sie schlagen sich ab, als wäre nun ihr Auftrag erledigt, mich aufzuheitern. Mir geht es nicht aus den Kopf, wie ich Liv habe wegrennen lassen.

Ich möchte mir am liebste gegen den Kopf hauen, immer und immer wieder, so wie sie es macht, wenn sie mit einer Situation überfordert ist. Die ganze Woche lang, habe ich es so gut wie möglich hinbekommen, sie zu verdrängen. Aber nun drängen die Erinnerungen in doppelter Geschwindigkeit in meine Gedanken. Kopf in den Sand stecken, wäre auch eine Möglichkeit. Welche Tiere tun dieses nochmal bei Gefahr? Sträuße?

Weil ich noch immer keinen Laut von mir gegeben habe, sondern nur gelangweilt zwischen sie her starre, beginnen sie von Neuem. Diesmal erfolgreicher.

„Weißt du Nick, wenn du auf dieses Mädchen stehst, solltest du schnell zu ihr", flüstert Joe und rückt noch ein wenig näher, damit er nicht vom Bett fällt.

„Ich steh nicht auf Liv!", platzt es aus mir heraus. Wahrscheinlich ein wenig zu offensichtlich, denn die beiden schauen sich jetzt verschwörerisch an.

„Liv, heißt sie also", kichert Kevin. Was ein komisches Bild wir drei im Bett abgeben müssen. „Das Leben", sage ich in Gedanken. „Was?", fragt Joe, als hätte er sich verhört. „Leben, dass bedeutet ihr Name", flüstere ich mehr zu mir und springe auf.

Stolpernd hüpfe ich über Joe und schnappe mir meine Kleidung. Sie haben Recht, ich muss hinter Liv her. Besser spät, als nie, oder?

Auf dem Weg zur Tür erwischt mich zum Glück niemand. Ich nehme mir mein Fahrrad und fahre zum Krankenhaus. Dabei ziehe ich mir meine Kapuze schnell über den Kopf, damit mich keine Fotografen oder Fans erkennen.

Ich suche Liv gar nicht erst in ihrem Zimmer, sondern renne sofort in den Keller. Mit verschränkten Armen sitzt sie unter dem alten Schreibtisch. Sie schaut nicht auf, sondern schluckt einmal schwer. „Am 13 Oktober 2003 entwickelte sich aus einer tropischen Welle im mittleren Teil des atlantischen Ozean der Sturm Nicholas. Seine Entwicklung war langsam, aber am 17 Oktober erreichte der Sturm seine Spitzenintensität von 110 km/h. Den größten Teil seines Lebens zog er nordwestwärts, aber drehte aufgrund Windscherungen nordwärts", flüstert Liv leise. Ich lausche gespannt ihren Worten, verstehe aber tatsächlich nichts. Ich nicke wissend, obwohl mein Gehirn noch immer auf hoch touren arbeitet.

„Es tut mir Leid, Liv", ist das einzige was ich heraus bekomme. Sehr einfallsreich, so wird sie mir natürlich verzeihen. Wahrscheinlich direkt in Euphorie in meine Arme springen. Ich versuche an ihren Gesichtsausdruck zu erkennen, wie sie dies aufnimmt, aber sie spricht emotionslos weiter: „Er zog eine Woche herumirrend in diese Richtung, organisierte sich erneut in ein tropisches Tiefdruck und wendete wieder". Ich setze mich vor ihr und ziehe meine Knie zu mich ran und lasse ihre Worte immer und immer wieder in meinem Kopf spielen. Langsam fange ich an zu verstehen. Ich bin der Sturm. Eigentlich konnte sie es mir nicht deutlicher machen, denn schließlich, hieß er so wie ich. Trotzdem verwirrten mich ihre Abstraktionen, wie Nicole- nicht Kidman, jetzt zu sagen wüsste. Aber sie hat Recht, vollkommen. Eine Woche lang, habe ich mich gehen lassen. Eine Woche meines Lebens damit verschwendet, mich zu bemitleiden, aber warum? Schließlich habe ich das Leben gefunden. Liv. Jemanden für den es sich zu kämpfen lohnt, immerhin habe ich mir ein Versprechen gegeben. Schon zweimal habe ich sie hängen lassen. Zweimal mein Versprechen gebrochen. „Ich hoffe, der Sturm hat nicht all zu viel Schaden angerichtet", sage ich und greife nach ihren Händen. Sie zieht sie nicht zurück. Lediglich starrt sie einen Moment darauf, wägt wahrscheinlich ihre Möglichkeiten ab. Ein Fluchtversuch ist kaum Möglich, denn ich sitze vor ihr. „Kollateralschäden. Sonst nur Regenfälle, Sturmböen und eine raue Brandung", antwortet sie leicht erschöpft. Regenfälle, könnten auf Weinen hindeuten, Sturmböen auf Wut. Aber raue Brandungen? Gereiztheit? Trotzdem wird mir erst jetzt bewusst, wie schmerzlich mein Herumirren, wie sie es nennt, für Liv gewesen sein muss.

Vorsichtig streichle ich ihre zarte Hand. Mir fällt nichts mehr ein, was ich sagen könnte. Joe, wüsste jetzt was. Zumindest einen doofen Spruch, zur Auflockerung der Lage. Aber ich starre wie ein Reh im Scheinwerferlicht in ihr Gesicht. Irgendwann greife ich ein wenig fester und ziehe sie hoch. Stehend sieht sie noch erschöpfter aus. Vorsichtig fahre ich mit meinen Fingerspitzen über ihren Arm, rauf zur Schulter und streichle ihren Nacken. Ihre Augen glänzen, aber noch immer schaut sie unbeeindruckt. Ich weiß, dass dies ein Zeichen ihrer Krankheit ist. Nein, keine Krankheit. Es ist einfach eine Eigenschaft, die zu Liv gehört. Trotzdem spüre ich im Bauch, ein leichtes ziehen. Wie bei einer Wette, die ich mit mir selber abmache, möchte ich ein kleines lächeln sehen. Ich ziehe ihren zarten Körper zu mir heran. Der ziemlich kalt ist. Sie muss schon Stunden dort gesessen haben. Mich hält nichts mehr, ihren langsamen Atem spüre ich auf meiner Haut.
Vorsichtig und langsam tasten sich meine Lippen, von ihrem Hals zum Mund. Ich habe noch nicht viel Erfahrung mit Mädchen. Auch nicht mit küssen. Aber es fühlt sich alles so richtig an. Wie ein Instinkt, wandern meine Lippen immer höher. Jedoch lasse ich meine Hände, wo sie sind, denn selbst ein Zucken würde zur Niederlage meiner eigenen Wette führen. Ich hasse mich einen Moment dafür, eine Wette abgemacht zu haben, sei es nur für mich selbst. Aber als meine Lippen, ihre berühren, ist alles verflogen. Mein Magen zieht sich zusammen. Ein wunderbares Gefühl. Ich spüre Livs Hand auf meinem Rücken. Von Sekunde zu Sekunde verschwindet ihre Zurückhaltung. Ich höre sie einmal leise stöhnen. So als würde die Anspannung, die Wut über den Sturmtief fallen. Bereit für einen Sturmhoch. Beinahe außer Atem weichen wir auseinander. Und das ist es, dieses kleine Lächeln. Mich durchfährt ein kribbeln. Wie nach einem Auftritt, wenn alle „Zugabe" rufen. Weil du weißt, du warst gut, sie wollen mehr. Aber auch mir macht es Spaß, es ist mein Leben.
Wieder spüre ich ihre Hand, an meinem Hals. Und ich gebe ihr die Zugabe.



Be different (Nick JONAS) *beendet* Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt