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Das Café ist voll, als ich nach Hause komme. Was eine Erwähnung wert ist, nicht weil das sonst nie passiert, sondern weil nur eine Person hinter der Theke steht.

»Wo ist Lucian?«, frage ich Moritz, der ein wenig überfordert einer Frau das Sandwich einpackt.

Er ist erst 21 und als Aushilfe hier eingestellt. Nach langem hin und her vor einigen Jahren hat Ma Lucian fest in diesem MoonHour eingestellt, als Geschäftsleitung, während Tante Pennie das andere MoonHour der Stadt leitet.

»Und wo ist ... wie heißt sie noch einmal?«, frage ich weiter und ziehe mir bereits Jacke und Tasche aus, knalle sie in den Zwischengang hinter dem Verkaufsraum und schnappe mir von den Haken dort eine Schürze in diesem Weinrot, das das ganze Ambiente ausmacht.

Bevor Moritz auch nur antworten kann, bediene ich drei Tische und entlaste ihn somit. Das Kellnern und Bedienen liegt mir ja praktisch im Blut – oder zumindest in der Erziehung.

»Rebecca ist krank. Und Lucian ist gar nicht erst erschienen.«

Was höchst ungewöhnlich für den Mann ist, der meine Tante geschwängert hat. Hey, ich zähle nur die Fakten auf. Er ist der Vater von Elisa, was aber niemand weiß. Tante Pennie liebt es, Geheimnisse um ihre Kinder zu ranken.

Weil ich mich nicht einfach umdrehen kann und Moritz im Chaos versinken lasse, bleibe ich, bis Jo irgendwann nach Hause kommt und mich grinsend vom Eingang aus ansieht. Sie trägt ihr typisches Uni-Outfit, bestehend aus diesen leidlichen Harem-Hosen, einem Top und einer langen Strickjacke darüber. Die Haare komisch zusammengebunden und ungeschminkt. Fast so hübsch wie ich sie kennengelernt habe. Nur fast, weil das Grinsen auf ihren Lippen nicht so süß ist wie man vielleicht denken könnte.

»Ein Mann am Herd, das sehe ich doch gern«, erklärt sie beim Näherkommen und küsst mich sanft.

»Das ist kein Herd.«

»Und trotzdem sehr sexy.« Wieder küsst sie mich und kurz gebe ich mich dem Verlangen hin, ihr einfach nach oben zu folgen. Seit Fia mir den Floh ins Ohr gesetzt hat, von einer Familie mit Jo, bekomme ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Kleine Jungs, die mit Jos blonder Mähne durch die Gegend rennen und kleine Mädchen, die meine braunen Haare benutzen, um allen den Kopf zu verdrehen.

Wieso mache ich mir immer so viele Sorgen um die Zukunft, wenn ich nicht einmal die Gegenwart genießen kann? Wenn ich eins aus der Geschichte meiner Eltern gelernt haben sollte, dann dass jeder Augenblick kostbar ist. Und dass man immer über die eigenen Gefühle reden muss. Sonst kommen sie irgendwann hinterrücks an und erstechen dich.

»Lass mich bis kurz vor Mitternacht arbeiten, dann komme ich«, murmle ich an ihre Lippen.

»Kein Ausflug aufs Dach?«

Ich erkenne das Glitzern in ihren Augen und weiß, dass sie meine nächtlichen Besuche dort oben nicht gutheißt. Jo kennt mich gut, besser als ich mich selbst kenne. Sie wusste von Anfang an, dass ich nach dort oben fliehe, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen.

»Heute nicht, nein.«

Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt