Auch wenn Tante Pennie und ich uns nicht nahe stehen, wie Eltern ihren Kindern nahe stehen, weiß ich doch einiges über sie. Es war mir eine zeitlang ein persönliches Interesse, mehr über sie herauszufinden. Mehr zu erfahren, mehr zu wissen. Ich dachte, dass ich dadurch eventuell besser verstehen kann, wer ich bin, wenn ich weiß, wer sie ist.
Der Weg bis zu der Schauspielschule ist nicht einmal weit. Elisa hat wirklich an alles gedacht, als sie diese Hinweise platziert hat. Da heute Samstag ist, ist die Schule geschlossen. Trotzdem ist die Straße nicht leer. Menschen, wohin man sieht. Mit Einkaufstaschen, mit Freunden, mit dem Hund, mit einem Handy am Ohr. Aber sie alle hetzen.
»Sie hat dich auch hierher geschickt?«
Tante Pennie ist in einen Wollmantel eingewickelt und sitzt auf der Stufe der Schauspielschule, den Kopf gegen die Backsteinwand gelehnt. Sie sieht so ... verloren aus. Die ganze Zeit mache ich ihr Vorwürfe und zerfließe in Selbstmitleid. Ich verurteile meine leibliche Mutter für genau dasselbe. Was ein Idiot ich bin. Wieso haben Jo und Nora immer recht? Ich bin umzingelt von weisen Frauen.
»Natürlich hat sie das«, spricht Pennie weiter, ohne auf meine Antwort zu warten. Ich setze mich zu ihr, direkt neben sie und sofort lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter. Die Leute, die vorbeikommen, könnten uns für ein Liebespaar halten. Immerhin war Pennie erst 23, als sie mich bekam. Sie ist jetzt 51, aber noch gut »in Schuss«. Sie sieht viel jünger aus und Paare unterschiedlichen Alters gibt es zuhauf.
Oh mein Gott. Denke ich gerade über eine Beziehung mit meiner Mutter nach? Wieso hab ich keinen Kaffee getrunken, bevor ich hierherkam?
»Es tut mir sehr leid, Elias«, flüstert sie und ich nehme ihre Hand. In diesem Moment sind wir einfach keine Mutter- und Sohn‑Sache. Wir sind zwei Menschen, die Zarah Kassandra Moon-Rain verloren haben. Wir sind zwei Menschen, die Chloe Elisa Moon finden wollen. Zwei Monde auf der Suche nach ihren einzigartigen Sternen.
Scheiße, ich brauche wirklich ganz dringend Kaffee.
»Ich hab mich um dich nie gesorgt. Ich wusste ja, dass es dir bei Za gut geht. Aber jetzt da Elisa weg ist ...«
»Ist gut«, unterbreche ich sie sanft. »Ich weiß schon.«
»Tust du nicht.« Sie hebt ihren Kopf und Tränen glitzern hinter ihren Augen. »Ich bin nicht deine Mutter. Za war deine Mutter, egal dass sie dich nicht zur Welt gebracht hat. Wir wussten schon ziemlich früh, dass sie nicht schwanger werden kann. Sie war so jung, als diese Myomen festgestellt wurden.« Pennie schüttelt den Kopf und eigentlich will ich gar nicht hören, was sie sagt. Solche Dinge gehören nicht in meinen Wissensschatz. Echt nicht. Aber sie will es sagen, also lasse ich sie.
»Die Ärzte waren verwirrt. Myome sind Tumore, aber die treten normal eher bei älteren Frauen auf. Aber Za hatte schon immer so viel Pech. Nach der OP hatte sie weiterhin Probleme und es hieß mit einem Mal, dass eine Schwangerschaft so gut wie unmöglich ist. Dass es Verwachsungen gab. Deswegen hat sie dich gleich doppelt so sehr geliebt.«
Ich weiß, dass Ma mich geliebt hat. Es verging kein Tag meines Lebens, an dem ich das nicht wusste. Und das ist weitaus mehr, als viele andere Menschen von sich behaupten können.
»Du bist eine gute Mutter für Elisa.« Ich lüge nicht, nur damit das klar ist! Ich beschönige nur. Das ist ein Unterschied. »Ein bisschen unaufmerksam vielleicht und an anderen Stellen zu streng, aber sie ist ein aufgewecktes, glückliches Kind.«
Pennie schnieft und erhebt sich. Sie muss hier schon Ewigkeiten sitzen, so wie sie sich streckt und das Gesicht bei jeder Bewegung verzieht. Sie und Ma sahen sich noch nie so ähnlich wie gerade eben. Und überraschenderweise tut es nicht so weh. Wann bin ich so reif geworden?
Aus der Hintertasche ihrer Jeans zieht sie einen neuen Umschlag, doch ich muss ihn nicht lesen. Ich habe es verstanden, was ja lange genug gedauert hat. Doch jetzt weiß ich, wieso Elisa das hier abzieht.
Ich lege meiner Tante einen Arm um die Schulter und führe sie zu meinem Wagen. Ich weiß genau, wohin wir als Nächstes müssen.
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Everyday at midnight {I miss you}
Romance»Jede Nacht, kurz vor Mitternacht, sitze ich auf dem Dach meines Wohnhauses.« So beginnt die Geschichte um den jungen Erwachsenen Elias Moon. »Willst du mich heiraten?« So sollte die Geschichte weiter gehen. »Es tut mir sehr...