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»Was meinst du, können wir da einfach rein?«

Das Universitätsgelände ist riesig. Es besteht streng genommen aus mehreren Standorten, doch da Jo sogar weiß, in welchem Saal Luca gerade ist, lotst sie uns sicher zum Campus. Es ist an einem anderen Ort als meiner, weswegen ich mich ein wenig überfordert fühle. Neue Häuser und neue Gesichter und für Jo ist das alles nicht fremd. Der Medizin-Bereich befindet sich scheinbar auch hier. Was ich wissen sollte, immerhin ist Jo hier auch Studentin. Sie weiß genau, wo meine Vorlesungen sind, wo ich meine Dozenten aufsuchen kann, wo ich Prüfungen habe und wo sich der beste Kaffee des Campus finden lässt. Ich hingegen kenne die Theorie, weiß allerdings nichts in der Praxis, weil ich sie nie hier abgeholt habe. Auf ihren Wunsch hin. Sie hält mich gerne von solchen Dingen fern.

»Na klar«, antworte ich Nora, weil Jo konzentriert die Nummern an den Fluren studiert. An einer grünen Tür am Ende des Ganges bleibt sie stehen und schaut durch ein kleines Fenster hinein.

»Ich sehe ihn«, flüstert sie, was dennoch laut herüberkommt. Diese alten Gebäude mit ihren riesigen Decken und dem Echo. Wohl habe ich mich hier noch nie gefühlt.

»Dann nichts wie rein«. Nora hat bereits die Hand am Griff, als ich den Kopf schüttle. Nichts ist schlimmer als jemanden bei seiner Prüfung zu unterbrechen. Außer ihn dabei vor seinem Dozenten bloßzustellen und mit etwas zu nerven, das auch ruhig einige Minuten hätte warten können.

»Womit vertreiben wir uns dann unsere Zeit?«, stöhnt Nora weiter und als sie einen allein gelassenen Stuhl am Ende des Ganges sieht, macht sie sich schlurfend auf den Weg dorthin. Es scheint so, als würde ihr Koffeinspiegel nachlassen, was ich sehr gut nachempfinden kann.

»Wir könnten reden«, erwidere ich, allerdings an Jo gewandt. Sie lächelt demonstrativ. Wieso müssen Frauen so kompliziert sein? Wieso muss ich so kompliziert sein?

»Worüber reden, Elias? Wir haben geredet.«

Ihre passiv aggressive Art geht mir auf den Geist. Immer zieht sie sich zurück, wenn sie verletzt ist. In sich selbst, in ihre Arbeit. Sie entschwindet mir und ich kann damit nicht umgehen. Ich rede, wenn ich mich unwohl fühle. Zu viel. Früher mit Ma und Mum, dann mit Nora und dann wieder mit Ma. Jo und ihre Schweigsamkeit ... Ihr wisst ja. Ich hatte berichtet.

»Ich liebe dich.«

Bin ich nicht ein alter Schlaufuchs? Ich meine, wer kann dem widerstehen? Jo liebt mich auch, das weiß ich. Ist eine Tatsache. Indem ich ihr das also sage, an diesem zugegeben unromantischen Ort auf einer geheimnisvollen Mission ... Niemand könnte da hart bleiben.

»Leck mich doch.«

Jo kann dem scheinbar doch widerstehen. Scheiße.

»Lässt sich einrichten.«

Sie verzieht das Gesicht. Scheiße! War wohl doch nicht die richtige Erwiderung. Da Nora mit dem Stuhl ankommt, schweige ich und hoffe, dass Jo es jetzt auch tut. Jetzt tut die Stille gut, die sich aufbaut. Peinliche Stille ist besser als peinliche Gespräche.

Scheinbare Stunden später erscheint Luca in der Tür und ist ehrlich überrascht uns zu sehen.

»Leute?«, fragt er, in dem Moment, in dem sein Dozent hinter ihm aus der Tür tritt.

»Ah, wie schön. Sie sind alle hier. Wie sie versprochen haben.«

»Hä?«, fragt Luca und sieht mich an, wie man seinen großen Bruder eben ansieht, wenn man ahnungslos ist. Großer Bruder. Das ist selbst nach all den Jahren noch seltsam für mich.

Ich schüttle den Kopf und komme auf den weißbärtigen Mann zu, im selben Augenblick wie Nora und Jo.

»Haben Sie etwas für uns?«, fragt Letztere und grinst ihr bezauberndes Lächeln. Herrje, jede Sekunde, in der sie auf mich sauer ist, bereue ich mehr, dass wir Streit hatten. Sie ist ein bezauberndes Wesen. Und egal was für dumme Dinge ich gesagt und gedacht habe - Ich brauche sie in meinem Leben. Das wird mir immer bewusster. Wieso habt ihr mich nicht vorwarnen können? Sonst mischt ihr euch auch immer ein ... Ach so. ich vergaß. Stummes Publikum. Sorry, Leute.

Zurück zum Thema.

Der Dozentenkerl wühlt in seiner Tasche und reicht Jo einen Umschlag, den sie wissbegierig öffnet. Luca, der nach wie vor ahnungslos bleibt, schaut weiterhin mich an. In wenigen Worten versuche ich zu erklären, dass Elisa nicht entführt wurde, was er bereits von Fia weiß. Was er noch nicht wusste, war, dass Elisa diese ganze Mystery-Tour eingefädelt hat. Zusammen mit Lucian.

»Hör auf!«, ruft Luca aus, während wir zum Auto laufen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mir den neuen Brief anzusehen, weswegen ich ahnungslos hinterherdackle. »Elisa ist erst zehn. Sie kann sich nicht all diese Schritte ausgedacht haben.«

»Sie ist schlau«, wiederholt Nora ihre Worte von vorher und sieht über ihre Schulter zu uns. »Außerdem muss sie nur die Idee gehabt haben. Die Ausführung wird Lucian übernommen haben.«

Leuchtet ein. Und wenn ich Elisa finde, werde ich ihr auch sagen, wie genial das war. Nachdem ich sie angeschissen habe, wie sie uns das nur antun konnte. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der wir alle noch um Ma trauern.

Als wir bei Noras dunkelblauem Auto ankommen, unterdrücke ich den Drang, nach vorn auf den Beifahrersitz zu rennen. Jeder mit Geschwistern wird diesen Impuls kennen. Immerhin ist der Beifahrersitz DER Sitz im Auto. Früher musste ich mich immer mit Luca und Fia darum streiten, wer vorne sitzt. Bis ich selbst fahren konnte und sie sich allein darum stritten.

»Wie ist es denn jetzt eigentlich gelaufen?«, wende ich mich an meinen Ziehbruder und stoße ihn mit der Schulter an. Da wir ungefähr auf der gleichen Höhe befinden, kommt das auch nicht doof.

Luca zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht. Ergebnisse erfahren wir erst kommende Woche.«

»Ach, du hast das gerockt!«, mischt Jo sich ein und hebt optimistisch die Arme, um Luca zu umarmen. »Wir haben dich gesehen, du warst der Hammer!«

»Danke, JoJo.«

Moment. Mooooomeeeeent.

»Seit wann darf dich jemand JoJo nennen?«

Sechs verständnislos blinzelnde Augen schauen in meine Richtung. Meine Güte, dass sie sich alle nicht daran erinnern, zeigt nur, wie mein Gehirn arbeitet. Nämlich anders als die Norm.

»Oktopus hat mich vor zehn Jahren gewarnt, dich so zu nennen.«

»Oktopus?«, wiederholt Nora, ehe sie in Gelächter ausbricht. »Ach der Schnösel mit dem Auto?«

Es war zwar nicht witzig und ich erinnere mich nicht gerne daran, aber Oktopus war ein alter Bekannter von Jo. Aus ihren Zeiten, als sie noch eine funktionierende Familie hatte und auf eine gute Schule ging. Dort freundete sie sich mit einem reichen Schüler an, der einen bescheuerten Namen hatte und superteure Autos fuhr. Sie hinterließ ihm ihr Tagebuch, damit ich es lese. Und verstehe, wieso sie damals weglaufen musste. Nur dass sie nicht weglief und sie mich wiederfand. Und ich sie danach nie wieder weggehen lassen wollte.

Jedenfalls war dieser Schnösel ein Freund von Jo, der wusste, dass sie den Namen »JoJo« verabscheute. Was es umso verwunderlicher machte, wieso Luca sie so nennen darf.

»Lange Geschichte«, erklärt Luca jedoch zu meiner Überraschung und macht Anstalten, ins Auto zu steigen.

»Was tust du da?«

»Einsteigen?«, erwidert er überflüssigerweise, während die Mädchen sich schon ihre Frontplätze sichern. Verdammt. Dieses ganze Abenteuer ist doch doof.

»Aber wieso?«

»Ich fahre natürlich mit!«

Natürlich. Weil wir ja noch mehr Leute in dieser verrückten Tour brauchen. Wir sind ja nicht schon genug Irre, die einer Schnitzeljagd nachgehen. Vielleicht sollte ich noch eine Annonce in der Zeitung aufgeben? »Sorgenvoller Bruder sucht durchgedrehte Leute, die nichts gegen eine sinnlose Schnitzeljagd haben, um Zehnjährige ausfindig zu machen. Belohnung: Ein kostenloser Aufenthalt in einem Krankenhaus Ihrer Wahl - zum Heilen all Ihrer Wunden.«

Seufzend lasse ich Luca gewähren. Immerhin gewährleisten wir so eine bessere Quote. Zwei Männer gegen zwei Frauen. Da kann ja nichts schief gehen.

»Wohin fahren wir jetzt eigentlich?«

Seht ihr, Luca trägt schon was zur Allgemeinheit bei. Ich hatte schon fast vergessen, dass wir das noch immer nicht wissen.

Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt