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Eine Woche vergeht. Eine zweite und eine dritte folgen. Es vergehen sogar vier Monate ohne dass es mir besser geht. Äußerlich ja. Ich gehe zur Arbeit, obwohl ich jede Nacht bis nach Mitternacht auf dem Dach sitze. Ich gehe mit Jo essen und zu ihrer Schwester und zu meiner Familie. Ich treffe mich mit meiner besten Freundin Nora und ihrem Ehemann, verbringe Zeit mit meinen Kollegen. Ich bin die perfekt funktionierende Maschine und für einen langen Zeitraum klappt auch genau das.

Ich meine ... Wieso auch nicht? Jeder muss voranschreiten. Zurückblicken ist in der heutigen Zeit nicht. Dass ich gerne mit jemandem reden will, der nicht von Trauer zerfressen ist, ist egal. Denn Mum trauert doppelt und dreifach, hat sie doch schon so viele Menschen verloren. Und wie könnte ich den bisher glücklichsten Tag meines Bruders vermiesen, indem ich schlechte Laune auf seiner Verlobungsparty habe?


»Danke dass ihr kommen konntet!«, brüllt Luca vom Eingang aus zu und kommt die wenigen Stufen hinuntergerannt, die uns voneinander trennen. Er trägt einen Anzug, was eine zu förmliche Aufmachung für den kleinen Streber ist, den ich in Erinnerung halte.

»Denkst du ehrlich, wir verpassen die Feier? Die Probe vor der Hochzeit? Niemals«, erklärt Jo neben mir und drückt meinen Bruder so fest an sich, wie es nur geht.

»Skye konnte nicht kommen.« Lucas Gesicht verdunkelt sich kurz. Ich will etwas Aufmunterndes sagen, aber wieder einmal weiß ich nicht genau was. Ich bin gefangen zwischen dem Wunsch, für alle da zu sein und mich zu verkriechen. Lustig wie emotional verkrüppelt ich jetzt bin.

»Vielleicht findet Henry es besser, wenn die Schwiegermutter nicht kommt«, scherze ich unüberlegt und ernte falsches Lachen. Ha Ha. Ich bin so ein Scherzkeks.

»Überlass die Witze lieber jemanden, der nicht vor kurzem die Mutter verloren hat«, haucht Jo und hakt sich bei mir unter, während wir die Stufen zu dem gemieteten Raum erklimmen. Wieso man vor einer Hochzeit so ein großes Drumherum machen muss, weiß ich nicht. Als wäre die eigentliche Hochzeit nicht schon aufregend, besonders und teuer genug. Aber Henrys Eltern haben auf eine Verlobungsfeier gepocht. Vielleicht wollen sie damit nur zeigen, wie »offen« sie für die sexuelle Orientierung ihres Sohnes sind.

Der Partysaal ist voller Bilder der beiden. Von ihrer gemeinsamen Schulzeit, als sie noch beste Freunde waren und niemand je geglaubt hätte, dass da mehr passiert. Eine zeitlang war Luca mit Mädchen zusammen, hatte Freundinnen – Jahre vor mir, muss ich eingestehen – weil er einfach ein süßer kleiner Nerd war. Eines Tages kam er jedoch zu mir und meinte, dass er ... na ja ... ihr wisst schon. Dass es mit seinen Freundinnen nicht funktioniert. Tatsächlich war er es, der auf die Idee kam, dass es am Geschlecht liegen könnte.

»Elias, Jo!«

Müssen alle an diesem Abend brüllen? Als würden die Kopfschmerzen, die ich nur von all diesen fröhlichen Gesichtern habe, nicht ausreichen.

Auch Henry brüllt, als er auf uns zukommt. In einem feinen weißen Anzug, mit schwarzem Kragen. Er erinnert mich ein bisschen an einen Schlagersänger auf Heimurlaub, aber das sind nur meine müden und bösen Gedanken. Und die Tatsache, dass ich nie mit ihm warm geworden bin und es jetzt auch nicht mehr werde.

Versteht mich nicht falsch, Henry scheint echt ein netter Kerl zu sein. Aber das sagte ich auch mal über Fias Freund Erin, bevor er ihr den Arm brach.

»Wie schön, dass ihr hier seid.«

»Wir verpassen doch nicht –«, will ich Jos Satz von vorher wiederholen, als Henry sich schon abwendet, um andere Gäste zu begrüßen. Menschen, die ihn vermutlich mehr interessieren als ich.

Lieben gelernt haben die beiden sich in Lucas Abijahrgang. So lange ist das noch gar nicht her, wenn man bedenkt, dass er jetzt erst 24 ist. Zu der Zeit wusste Luca endgültig, dass er nur auf Männer steht und der weitaus reifere Henry hatte ihn ab diesem Zeitpunkt sofort an der Angel.

»Du schlägst dich sehr gut«, haucht Jo etwas später, nachdem der zweite Gang abgeräumt wurde. Wieso es auch noch gesetztes Essen geben muss ... »Du könntest bessere Laune haben, aber ich werde nicht meckern.«

Ich drehe mein Gesicht in ihre Richtung und küsse sie, was mir sofort wieder Magenschmerzen bereitet. Dass ich mit ihr reden muss, ist unerlässlich. Jo verdient es, die Wahrheit zu erfahren. Sie muss wissen, dass ich Zweifel habe. Schon wieder.

Na, Ma, wärst du jetzt auch noch stolz auf deinen tollen Sohn?

Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt