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»Es ist sieben Uhr zwei«, stellt Tante Pennie ungeduldig fest und ich stöhne. Ich habe sie so oft gebeten, nach Hause zu fahren, dass wir Elisa finden würden, dass alles gut werden wird. Doch sie hört nicht auf uns. Das kommt wohl davon, wenn man versucht, mit ihr normal zu reden.

»Wieso ist der Bote noch nicht da?«

»Vielleicht wurde er aufgehalten«, sagt Nora gähnend und lässt ihren Kopf abermals auf ihren Unterarm sinken. Das frühe Aufstehen und späte Zubettgehen haben ihren Rhythmus aus dem Ruder gebracht. Anders als mich. Ich bin durch meine ständige Lang-Aufbleiberei hellwach.

»Aber wir müssen Elisa finden!«

Manchmal weiß ich nicht, ob ich Tante Pennie ernst nehmen kann, bemitleiden muss oder einfach nur seufzen soll. Sie tut mir leid – hatten wir schon, nicht wahr? – aber sie ist immer so. Nicht nur jetzt, in dieser speziellen Situation. Ma ist auch jedes Mal überfordert gewesen, wenn es um Pennie ging.

Mal rief sie uns mitten in der Nacht an, weil sie glaubte Wehen zu bekommen. Im vierten Monat. Wann anders kam sie vorbei und hatte vergessen, dass Elisa als Baby daheim lag. Ich will ihr nicht unterstellen, dass sie eine schlechte Mutter ist. Ich denke nur einfach, dass ich jetzt als Erwachsener ihre Fehler sehe. Und denke, dass Ma sie übersah. Vielleicht absichtlich, vielleicht weil sie nicht objektiv war. Fest steht nur, dass ich ihr wohl helfen muss, sobald Elisa wieder da ist. Denn ich kann nicht mehr die Augen verschließen.

»Er wird schon –«, starte ich, als die Tür aufgeht und ein in orange gekleideter Radfahrer hereinkommt, unser Grüppchen neben der Theke sitzen/stehen sieht und auf uns zukommt. In der Hand einen Umschlag.

»Na endlich!«, keift Pennie und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Jo dem Fahrer einen Geldschein als Trinkgeld gibt und er sich daraufhin schnell verzieht. Vermutlich besser so.

Pennie reißt den Umschlag auf und studiert ihn. Ich sehe ihre Augenbewegungen. Wie sie wieder und wieder liest, was dort steht. Und halte die Spannung nicht mehr aus. Ich stelle mich in ihren Rücken und linse ihr über die Schulter.

»Ihr findet mich an einem Ort, der so groß und gleichzeitig so klein ist. Er ist enorm und gleichzeitig winzig. Der Ort, den ich meine, ist noch nicht existent und doch schon da. Es ist ein Gebäude und es ist keines. Findet mich.«

»Was soll das bedeuten?«

Nora nimmt den Zettel entgegen und auch sie legt die Stirn in Falten. Einzig Jo liest nicht was dort steht, sondern bestellt bei dem Kellner eine Ladung Kaffee für uns alle.

Sie anzusehen sorgt für Magenschmerzen. Ich will eigentlich am liebsten mit Nora alleine reden, um zu besprechen, wie ich das mit Jo wieder hinbekommen soll. Aber das ist gerade nicht angemessen.

»Ich muss das der Polizei bringen«, erklärt Pennie und greift schon nach ihrer Tasche. Nur dass es nicht ihre, sondern Noras ist. So verwirrt habe ich sie wirklich noch nie gesehen. »Sie wollen jeden weiteren Hinweis, um ausschließen zu können, dass sie doch entführt wurde.«

»Sie sagt doch selbst, dass sie freiwillig weggelaufen ist«, entgegne ich.

»Der nächste Hinweis ist bei Luca«, unterbricht Nora uns mit einem Lachen. »Er hat doch gesagt, dass er heute seinem Dozenten seinen Hausentwurf vorstellen muss. Das neue Superwohnhaus, ihr wisst?«

Tatsächlich klingelt etwas. Es soll seine Masterarbeit werden und heute ist der erste maßstabsgetreue Entwurf fällig. Ich hatte ihm gestern noch eine SMS schicken wollen, um ihm viel Glück zu wünschen. In der Aufregung hatte ich das ganz vergessen.

»Ein Modell ist groß in der Wirklichkeit und winzig im Entwurf. Es ist als Zeichnung und Modell da, aber nicht wirklich. Gott, wie einfach!« Ich schlage mir fast an die Stirn, so leicht ist das. Ihr wisst schon, wie in den alten Filmen. Eigentlich fehlt nur noch ein Glühbirnchen über meinem Kopf, das angeht. Weil mir ein Licht aufgeht. Ihr versteht schon.

Jo schweigt noch immer, als sie mit unseren Kaffees in Noras Wagen einsteigt. Pennie verlässt uns, wie abgesprochen. Was ich als immense Erleichterung wahrnehme. Ja ja, ich weiß. Ich muss an meiner sozialen Kompetenz arbeiten. Morgen. Wenn Elisa wieder da ist und dafür Zeit bleibt.

»Also fahren wir zur Uni?«, frage ich vom Rücksitz, doch Nora legt schon den Gang ein, um loszufahren.

Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt