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»Was meinst du damit, sie veranstaltet eine Schnitzeljagd?«, kreischt Tante Pennie.

»Das heißt, dass du die Polizei informierst, dass alles okay ist«, stöhne ich.

»Ich denke nicht, dass das so einfach ist«, wendet Nora ein und will anfangen zu erzählen, was sie weiß, wofür keine Zeit bleibt. Tante Pennie sieht sie wütend an, wendet ihren Blick zu mir und letztlich auch zu Jo, die zusammengesunken auf unserer Couch sitzt und wartet. Auf was? Weiß ich auch nicht. Vielleicht auf die Zeitmaschine und ihr zukünftiges Ich, das sie vor all dem hier rettet. Darauf warte ich nämlich auch.

Während Nora und Pennie anfangen zu diskutieren, schleiche ich mich in den Flur hinaus und ziehe die Trittleiter aus, die mich auf den Dachboden führt. Bis ich herausfand, dass es einen Weg nach draußen gibt, vergingen viele Jahre. Ich war kein Kind mehr, kein Jugendlicher. Vielleicht Anfang 20? Ma hat mir den Weg nach oben gezeigt, als ich ihr gesagt habe, dass Jo und ich uns getrennt hatten.

    

»Du bist ein Idiot.«
»Ma!«
Sie lachte. Sie war immer am Lachen, wenn sie in meiner Nähe war. Vielleicht wollte sie mir nur nie zeigen, dass es ihr auch schlecht gehen kann. Vielleicht tun Mütter das. Sie spielen ihren Kindern etwas vor, um ihnen keine Angst einzujagen.
»Ich habe viel zu lange gebraucht, um Skye anzusprechen und eigentlich war sie es sogar, die mich ansprach.« Sie schüttelte den Kopf und ich betrachtete sie. Wann immer sie von Mum erzählte, von ihrer gemeinsamen Zeit, kaufte ich ihr ihr Glück ab. Es kann nicht immer einfach gewesen sein, aber sie hatten es geschafft.
»Ich bin nicht du und Jo ist nicht Mum«, argumentierte ich, was sie sofort beiseite wischte.
»Nein, natürlich nicht. Aber ihr liebt euch, wie wir uns geliebt haben und auch jetzt noch lieben. Und wenn ich eines weiß, dann dass man die Liebe nicht loslässt. Nicht einmal wenn es gute Gründe dafür gibt.«

  

»Du liebst dieses Dach wirklich mehr als alles andere.«

Es ist eine Feststellung, keine Frage. Allerdings auch weniger feindselig als erwartet.

Ich drehe mich zu Jo um, ohne meine Arme von der Brüstung zu nehmen. Es ist kalt, der Dämmerung nach zu urteilen schon nach einundzwanzig Uhr. Vor zehn Jahren hätte ich jetzt etwas gegessen und wäre dann allmählich losgefahren. Oft hielt ich vor der Bank noch an der Tankstelle und besorgte etwas zu trinken. Manchmal etwas zu essen. Alles für die Heimfahrt. Für mich waren immerhin Tag und Nacht vertauscht.

»Es erinnert mich immer an uns«, gestehe ich und fasse mir in den Nacken.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine Entschuldigung. Entschuldige dich. Sag ihr wie leid es dir tut. Dass alles ein Missverständnis war und du einen Rückzieher machen wolltest, weil du sie zu sehr liebst und dass das verrückt ist, weil die Liebe verrückt ist.

Nichts sage ich.

Jo nickt wissend, stellt sich neben mich und schließt die Augen.

»Was glaubst du, wieso Elisa das tut?«, murmle ich, weil ich die Stille durchbrechen will. Und weil ich ein Idiot bin und nicht weiß, was ich sonst sagen soll, sage ich halt das.

»Ich glaube, sie fühlt sich verlassen und will, dass man ihr zur Seite steht.«

»Wieso sollte sie sich verlassen fühlen? Sie hat eine riesige Familie.«

Ein Kopfschütteln ist Jos Antwort. Dabei weiß ich mit Sicherheit, dass ich recht habe. Niemand bei uns kann sich verlassen oder einsam fühlen. Wir sind so viele. Wir sind eine riesige Bande. Durch uns fühlt man sich eher erdrückt.

»Erinnerst du dich daran, wie es bei mir losgegangen ist? Mit Florian?« Ich nicke schluckend. Jo redet nicht oft von ihrem Bruder. Aber wenn sie es tut ... »Ich hatte Freunde. Ich hatte eine funktionierende Familie. Ich hatte eine Schwester, mit der ich reden konnte. Und dann zog ich mich zurück und mein Vater interessierte sich nur noch für eine Tochter. Plötzlich war ich das einsamste Mädchen auf der Welt und war umgeben von lauter Leuten.«

Ihre Worte wirken auf mich und wecken den Drang, sie in den Arm zu nehmen. Es ist so leicht. Sie einfach an mich zu drücken und zu hoffen, dass sie mich nicht vom Dach schmeißt.

»Ich glaube, du hast recht«, führt sie weiter aus. Ich ahne schreckliches. Ich habe sonst nie recht. »Wir sind einfach nicht füreinander geschaffen. Wir wirken so und für eine Zeit läuft alles gut, aber wir sind grundverschieden.«

Sie berührt meine Schulter. Lächelt mir zu. Geht zur Tür, um hinunter zu gehen. Ich hole mein Handy hervor und schreibe meiner Mum. Wie ein kleiner Junge.

 

»Jo hat Schluss gemacht. Nachdem wir uns gestern Abend gestritten haben.«
»Das tut mir leid.«
»Gute Nacht.«

  

Sie ist eine gebrochene Frau, meine Mum. Früher hat sie mich dazu angehalten, zu kämpfen. Für Jo zu kämpfen, für meine Träume, meine Ziele. Jetzt ist sie weich und nicht mehr die Frau, die sie vorher war. Was erneut meine Ängste schürt.

Niemand muss so werden wie sie. Niemand sagt, dass Jo mir auch wegsterben könnte. Aber das ist ein Problem für einen anderen Tag. Meine Gedanken wiederholen sich ja sowieso nur und ich brauche endlich Schlaf. Morgen früh wird die Welt anders aussehen. Hoffen wir nur, dass sie sich diesmal zum positiven verändert.

Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt