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Meine innere Uhr ist ein Blödmann. Da schlafe ich schon einmal früh ein, in Erwartung dass ich mich ausruhe und dann werde ich einfach pünktlich um kurz vor Mitternacht wach. Weiß mein Körper nicht, dass es mir nichts mehr bringt, dass ich niemandem mehr schreiben kann? Klar ist da noch Mum, aber sie wird um diese Uhrzeit schlafen. Und keine Nachrichten von mir erwarten. Außerdem weiß ich auch nicht, ob ich ihnen heute schreiben möchte. Ihr. Ob ich ihr schreiben möchte.

Dennoch stehe ich auf, setze mich an das Fenster und schaue hinaus. Meine schuh-losen Füße hebe ich auf die Fensterbank und verbringe die kommenden Stunden in dieser nicht gerade gemütlichen halb liegenden Position. Aber der Schmerz hilft mir. So heißt es doch immer. Der Schmerz hilft zu vergessen. Oder zu heilen? Ich weiß es nicht.

   

»Wieso liegst du nicht im Bett?«, nuschelt Jo am frühen Morgen und schlingt von hinten ihre Arme um meinen Hals. Ich küsse ihre Arme. Will mich bewegen und scheitere kläglich.

Vergesst alles, was sie euch über Schmerzen gesagt haben – Es tut SCHEIßE WEH UND IST ES NICHT WERT.

»Jo?«

»Ich hol dir keinen Kaffee, du musst deinen Hintern schon selbst bewegen.«

Ich grinse und küsse erneut ihre Unterarme. Jetzt, da wir uns versöhnt haben, ist sie gleich viel offener. Das habe ich vermisst. Ich weiß ja, dass ihre Angespanntheit allein meine Schuld war, doch sie wieder Späße machen zu hören und grinsen zu sehen ...

»Lass uns heiraten.«

»Das ist der dämlichste Antrag, den ich je gehört habe«, kichert sie an mein Ohr. Etwas rumort in meinem Magen. Vermutlich Hunger. Wir hatten gestern gar nichts zum Abendessen. »Aber ja. Ich würde sehr gerne Johanna Moon werden.«

  

Als Kinder haben wir alle diese ultraromantische Vorstellung davon, wie das Leben abzulaufen hat. Märchenprinz/prinzessin, Märchenschloss, Märchenjob, Märchenauto. Alles wie in einem Traum. Im Idealfall haben wir auch noch die perfekte Familie und sehen unsere Eltern als Vorbilder an. Ich sah sie so an.
Die Geschichte, wie sich meine Mütter kennengelernt haben, kannte ich schon seit jeher. Nicht jedoch, wer wem einen Antrag gemacht hat.

»Ich habe sie gefragt«, erklärte Ma mir auf meine Frage.
In diesem Moment erschien Mum in der Küche und schnalzte belustigt mit der Zunge. Als hätte sie gespürt, dass etwas unrechtes erzählt wird.
»Stimmt nicht. Ich habe sie gefragt. Viermal. Sie hat jedes Mal abgelehnt.«
»Das ist ... erschreckend«, rutschte es mir heraus und ich sah zum ersten Mal dieses perfekte Bild vor meinen Augen zerbröseln. Wie man halt in seiner Pubertät so ist.
»Nein, ist es nicht«, widersprach Ma und küsste Mum über die Theke hinweg. »Ich merkte, dass sie noch gar nicht bereit war. Sie wollte es mir zuliebe und das konnte ich nicht zulassen. Sie musste es selbst wollen.«

  

Damals hatte ich nicht verstanden, wie sie genau das so süß und romantisch finden konnten. Viermal einen Korb zu bekommen, von der Frau, die man liebte, stellte ich mir hart vor. Jetzt verstehe ich es. Ich habe begriffen, wieso Ma immer wieder ablehnte und wieso Mum es stets weiter versuchte.

Niemand kann uns sagen, wann wir wirklich erwachsen sind. Wann wir einen Punkt erreichen, an dem wir realisieren, dass wir uns nicht mehr hinter unseren kindlichen Wünschen und Träumen verstecken könnten und anfangen müssen, erwachsen zu handeln.

Diesen Punkt hat Tante Pennie nie erreicht. Durch Ma war ihr gesamtes Leben »gerettet« und erfüllt von Grenzenlosigkeit. Sie besaß kaum Regeln und wenn, dann nur solche, die sie zu umgehen wusste.

Und ich ... bin nicht besser. Aber irgendwann bleibt uns keine Wahl mehr. Wir müssen schwimmen oder untergehen.

Mas Ablehnung der Hochzeitsanträge war ihre Art, Mum zu unterstützen, wirklich erwachsen zu werden. Und ich werde etwas Ähnliches für Pennie tun.


Jo ist unter der Dusche, als mir der Umschlag an der Tür auffällt. Der war die ganze Nacht noch nicht da, was nur bedeuten kann, dass jemand hier war. Vermutlich Elisa. Oder Lucian.

Möglichst geräuschlos schleiche ich zur Tür und öffne den Brief. Er ist offensichtlich für mich bestimmt, immerhin steht diesmal sogar mein Name darauf. Nur meiner, was darauf schließen lässt, dass auch niemand sonst ihn sehen soll.

»Du hast mich fast gefunden, brauchst nur noch ein paar Stunden. Such das nächste Puzzlestück und bring mich endlich zurück. Geh dafür an den Ort, an dem unsere Mutter fand ihr Glück.«

Und wieder weiß ich sofort, wo sie ist.


Everyday at midnight {I miss you}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt