Kapitel 1

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  Ein Geräusch veranlasst mich, die Augen zu öffnen. Es sind Schritte zu hören, Getuschel,aber alles in weiter Ferne. Ich kann nicht hören, was sie sagen. Über meinem Gesicht liegt Dunkelheit. Die Stofftüte wurde noch nicht entfernt und ich kann nur Schatten erkennen,vielleicht sind es aber auch Illusionen meiner Fantasie.
Mein Herz rast und ich wackele mit den Fingern, um mich zu vergewissern, dass sie auch noch da sind. Die Handgelenke schmerzen, denn sie wurden viel zu fest gefesselt. Soweit ich weiß, sitze ich auf einem Stuhl mit Lehne. Möglich, dass es sich auch um eine Bank handelt oder einen Hocker, der vo reinem Pfahl steht, an welchen ich gebunden wurde. Ich versuche, mir durch nichts anmerken zu lassen, dass ich wach bin. Ich brauche Zeit, zum Nachdenken. Wie bin ich nochmal in diese missliche Lage gekommen?
Ich wollte den Ball verlassen, um mich mit Carla zu treffen. Auf dem Weg dorthin wurde ich überwältigt und bewusstlos geschlagen.Bei den Gedanken daran, fängt mein Kopf an zu schmerzen. Wenn das mal keine Beule wird...
Wieso wurde ich entführt? Ich habe niemand etwas Böses getan und dürfte keine Feinde haben. Aber so naiv darf ich nicht denken. Jeder hat Feinde. Aber wer könnte das sein? Ich bin ja schon mal froh, dass ich noch lebe und mir keine lebensbedrohlichen Verletzungen zugefügt wurden. Also immer optimistisch sein, mein Entführer will mich bestimmt nicht töten. Andererseits kann sich das alles noch ändern, denn man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Wobei ich auch schon beim nächsten Problem wäre: wie spät ist es? Sind seit all dem Minuten oder schon Stunden vergangen? Ich hoffe auf Letzteres, denn dann würde Henry schon bemerkt haben, dass ich fehle und nach mir suchen. 

Es sei denn, alles wurde so geplant, dass mein Verschwinden erst seeeeeeeeehhhhhrrrrrrr spät, also nächsten Monat,auffällt. Dann sieht's schlecht für mich aus.Die Schritte kommen näher. Ich bemühe mich um gleichmäßige Atmung, wie sie bei Schlafenden der Fall ist. Nur nicht auffallen, dann ist alles vorbei. Die Person bleibt direkt vor mir stehen und ich wünschte er oder sie hätte vorher wenigstens Deo benutzt. Ich spüre den Atem auf meinem Gesicht und versuche, mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen.
„Alter, ich weiß gar nicht, was wir mit der sollen", sagt der Mann vor mir. Seine Stimme ist mir völlig unbekannt und sein Ausdruck passt zu seinem Duft. Eau de Gosse.
„Is' doch egal. Schade, dass der Prinz sie vor uns gefickt hat", antwortet ein anderer Mann bedauernd.
„Voll krass, dass der auf so Frauen steht", meint mein Gegenüber. Wie es riecht, gab es heute Knoblauch zum Essen. Wunderbar!
„Worauf soll er denn sonst stehen?", will der andere wissen. Ich beschließe, ihm den Namen Hinz zu geben und der Mann vor mir heißt Kunz. Hinz und Kunz also, zwei Niemande mit Hang zum perversen Smalltalk.
„Na, auf mich!", gibt Kunz zurück.

„Is' klar. Komm, geh und erschieß dich", lacht Hinz vom anderen Ende des Raumes.

Ob er die Tür bewacht?
„Okay", antwortet Kunz und dreht sich tatsächlich weg von mir.
„Alter, das war ein Witz", seufzt Hinz. „Du sollst doch 'ne alles ernst nehmen, was man dir erzählt!"
Okay, Kunz ist eindeutig der Dümmere von beiden. Aber das ist bei solchen Pärchen meistens der Fall. Bei CSI würde sich das Opfer Kunz Dummheit zu Nutze machen und ihn austricksen. Komischerweise immer zum selben Zeitpunkt, wenn schon ein Einsatzkommando die Tür stürmt. Da ich darauf nicht vertrauen kann, muss ich anders vorgehen. Ich beobachte das Verhalten meiner Zielperson und schließe daraus auf Schwächen und Stärken. Und dann folgt die Handlungsstrategie...soweit zur Theorie.
Um beobachten zu können, brauche ich meine Augen und da macht sich so eine schwarze Tüte überm Kopf echt schlecht.Ich gähne so laut ich kann und bewege mich ein bisschen, damit es aussieht, als wäre ich erst jetzt erwacht.
„Die Prinzessin ist wach!", sagt Kunz überflüssigerweise.

„Ach nee", kommt die Antwort von Hinz, dessen Schritte sich jetzt ebenfalls nähern.
„Hallo?", frage ich schüchtern und verängstigt. „Ich muss mal auf Toilette."
Jemand berührt meine Beine und ich stelle fest, dass ich sogar eine Fußfessel habe. Dann werde ich hochgehievt und drei Schritte später sitze ich auf einem Nachtstuhl. Eine echte Toilette fühlt sich anders an.
„Ich kann nicht, wenn mir jemand dabei zu sieht", beschwere ich mich.
„Du kannst uns gar nicht sehen, woher willst du wissen, dass wir dir zusehen?", fragt Kunz oberschlau.
„Ich nehme mal an, dass wir uns alle in einem Raum aufhalten, ohne Trennmauern dazwischen. Und da euer Job ist, auf mich aufzupassen, werdet ihr mir wohl auch beim Pinkel zusehen wollen. Das stört mich aber", antworte ich so verständlich wie möglich.
„Piss endlich, wir haben nicht ewig Zeit", schnauzt Hinz mich an.
„Könntet ihr mir bitte beim Anheben des Kleides helfen? Da meine Hände gefesselt sind,kann ich das nicht alleine", frage ich höflich.
Tatsächlich werden meine Handfesseln gelöst und ich kann das Kleid raffen. Das macht sich blind wirklich schwer, aber wenn die Natur ruft, geht's. In den Serien würde der Held seine Entführer nun mit coolen Manövern überraschen und selbst fesseln, aber leider bin ich keine Heldin.Ich erledige, was erledigt werden muss und werde dann zurück zu meinem Platz geschleppt.
Mein Hinterteil schmerzt inzwischen vom vielen Sitzen. Das Kleid zwickt und ist unbequem.Außerdem habe ich Hunger.Da kommt mir der erleuchtende Gedanke: das ist gar keine echte Entführung, sondern nur ein Spiel, um mir Angst zu machen!
Carla sollte mich ablenken, damit ich geschnappt werde.Meine Entführer sind eigentlich Diener und Henry wird jeden Moment durch die Tür stürmen und mich retten. Ja, so wird es sein. Denn wieso sonst sollte man mich entführen?

„Wisst ihr, Jungs, ihr spielt eure Rollen echt gut", lobe ich sie.

„Alter, was laberst du?", fragt Hinz irritiert. „Wir spielen hier gar nichts, das ist ernst."

„Natürlich, aber gleich wird Henry herein kommen und mich retten", sage ich überzeugt.Einbildung ist auch eine Bildung.
„Bro, ich glaub, die ist bekloppt", meint Kunz fachmännisch. „Wollen wir sie wieder bewusstlos schlagen?"

„Nein, wir lassen sie bei Bewusstsein. Denn dann trifft es sie noch härter, dass ihr Prinzchen nicht kommen wird", antwortet Hinz und ich kann sein fieses Grinsen vor mir sehen.Die beiden sind so überzeugend in ihren Rollen, dass sie bestimmt Schauspieler sind und keine Diener.„Könnte ich bitte etwas Essen und Trinken haben?", frage ich freundlich.Schallendes Lachen erfüllt den Raum.
„Nein, kannst du nicht. Erst, wenn unser Boss und seine Schnalle wieder kommen, gibt's was", sagt Kunz. „Und hör auf, so blöde Fragen zu stellen!"
„Also bitte, ich kann schon etwas mehr Höflichkeit erwarten", sage ich gespielt ernst.Keine Antwort. Na schön, dann eben nicht. Ich weiß, dass sie mich gehört haben.Henry wird bestimmt gleich kommen und mich hier herausholen. Das muss er einfach!
Wenn ich fest genug daran glaube, geschieht es auch. Aber nichts passiert. Die Zeit verrinnt und ich habe immer mehr Hunger, doch niemand bringt mir etwas Essen oder Wasser. Mit dem Hunger kommt auch die Verzweiflung.

Hat Henry mich vergessen? Oder ist es tatsächlich eine ernste Entführung? Irgendwann sind Hunger und Durst so stark, dass ich alles dafür tun würde, etwas essen oder trinken zu können.„Bitte...Wasser", flehe ich mit trockenem Mund.Jemand kommt meiner Aufforderung nach und hält mir ein Glas an den Mund. Zunächst zögere ich, zu trinken, denn es könnte vergiftet sein. Aber dann siegt der Durst. Gierig trinke ich alles aus und mir wird sogar der Mund abgewischt.

„Danke", sage ich leise.Keine Antwort. Ich werde nicht erfahren, wer so nett zu mir war. Vielleicht ist das ja auch Absicht, um mich zu quälen. Oder es ist jemand, der mir helfen will.„Warte", sage ich schnell. „Hilf mir hier weg."
Ein Lachen sagt mir, dass ich die falsche Person bitte. Enttäuschung macht sich in mir breit.Wieso kommt denn niemand?
„Spar dir die Mühe, Prinzessin. Hier kommt dich niemand retten", teilt Hinz mir mit. Ich kann nicht anders, als den Tränen freien Lauf zu lassen. Ich bin allein und verlassen, keiner wird mir helfen. Vielleicht werde ich das Sonnenlicht auch niemals wieder sehen und hier unten sterben. Es gibt so viele Menschen, denen ich nicht sagen konnte, wie sehr ich sie liebe. Was,wenn ich sie nie wieder sehe? Dann wissen sie es gar nicht. Und besonders Henry habe ich viel zu erzählen...

„Hör auf, zu flennen!", beschwert sich Kunz. „Sonst stopf ich dir dein hübsches Maul."Diese Ansage verfehlt ihre Wirkung total. Stattdessen heule ich nur noch lauter – und werde dann dafür geknebelt.
Ein Schrei der Frustration entfährt mir und ich werfe den Kopf hin und her, um den Knebel loszuwerden. Aber er ist zu fest und ich kann ihn nicht ausspucken.
„Endlich Ruhe", murrt Hinz zufrieden. Seine Schritte entfernen sich und ich höre, wie sich eine Tür schließt. Es ist furchtbar, nichts sehen zu können und sich nur auf sein Gehör zu verlassen.„Ich weiß nicht", meint Kunz nachdenklich, „wäre es nicht besser, sie zu betäuben?"

„Wozu? Hast du etwa Angst vor ihr?", bemerkt Hinz spöttisch.

„Haha", erwidert Kunz genervt und geht einige Schritte nach rechts, wo er dann stehen bleibt.Ob dort ein Fenster ist? Oder eine Tür?Dann erfüllt Kaffeeduft den Raum und mir wird klar, weshalb Kunz in diese Richtung gegangen ist.
„Dank dir Gott, für der Gerät!", freut er sich.
„Junge, wo hast du sprechen gelernt?", will Hinz wissen und ich kann mir vorstellen, dass er dabei den Kopf schüttelt. Kunz hat tatsächlich eine schreckliche Grammatik.
„Willst du Stress oder was?", fährt Kunz ihn beleidigt an. Er kommt wieder näher.
„Vielleicht sollte ich mal die Qualitäten der Prinzessin testen", sagt er, als er vor mir steht und bevor ich es mich versehe, liegt eine schwere Hand auf meinem Schenkel und schiebt sich weiter nach oben. Ich selbst kann mich nicht wehren, da ich rundum gefesselt bin.

„So gern ich das auch täte, Bro, aber der Boss hat's verboten", sagt Hinz. „Oder willst du wieder in den Knast?"
Kunz grunzt nur und setzt seine Entdeckungsreise an meinem Körper fort. Ich weine nur noch mehr, weil ich mich so schutzlos und beschmutzt fühle.

„Finger weg, du elender Wichser!", poltert plötzlich eine laute Stimme durch den Raum und Kunz nimmt seine Hände von mir, als hätte er sich verbrannt.  

Story of my Life - VerlassenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt