Kapitel 18

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Henry

Ich könnte ihnen allen den Kopf abreißen. Meinem Vater, meinem Bruder mit seiner immer lachenden Frau, meiner Stiefmutter und meiner Großmutter. Im Moment würde ich sie alle lieber tot als lebendig sehen. Aber Sippenmord ist auch nicht die beste Lösung.

Missmutig trinke ich einen großen Schluck Whiskey. Es ist schon das dritte Glas und ich spüre noch immer keine Erleichterung.
Ich kann es noch immer nicht vergessen. Ihr unschuldiges Gesicht und die mühsam unterdrückte Wut. Sie hasst mich jetzt. Das sagte sie mir ins Gesicht. Und dafür hasse ich mich selbst. Sie war mein Anker in der Not und hat mich mehr als nur einmal gerettet.

Ich liebe sie mehr als alles andere auf dieser Welt.
Und doch brachte ich es fertig, sie wegzustoßen. Es war richtig so, rede ich mir ein. Du hast das Richtige für euch beide getan.

Ich winke einen Diener heran, der mir zum vierten Mal nachschenken soll. Der Whiskey brennt sich meine Kehle hinunter und ich wünschte, ich selbst würde verbrennen. Dann wäre die Welt um einen Menschen leichter. Und es wäre noch nicht mal ein Verlust, wenn ich das richtig sehe. Wem bedeute ich denn was
 Wozu bin ich gut, außer als Sündenbock und Platzhalter?
Hinter meinem Rücken werden die schlimmsten Intrigen ausgebrütet und ich erfahre meist erst davon, wenn ich mittendrin stecke. Das Glas ist leer und ich winke wieder nach dem Diener. Ich könnte mir auch selbst eingießen, aber er wird schließlich dafür bezahlt,das zu tun.

„Tut mir Leid, aber der Whiskey ist alle", sagt er höflich.
Dann hole neuen!", fahre ich ihn härter an, als beabsichtigt. Der Diener verschwindet und ich sitze allein in meinem riesigen Zimmer, das ich mit niemandem teilen kann. Carla sagte zu mir einmal, dass ich es nicht verdient hätte, Prinz genannt zu werden.
Mit dreizehn nahm ich sie nicht ernst, aber langsam glaube ich, sie hatte Recht. Mein Bruder ist viel besser im Prinzsein als ich.
Es wurde ihm in die Wiege gelegt, diesen ganzen Schleimern und Jammerern zuzuhören und ihnen zu helfen. Ich ertrage schon ein falsches Lächeln kaum, wie sollte ich dann mit Heuchelei umgehen?
Mein Vater sagte, dies hätte ich von meiner Mutter.Sie muss eine reizende, liebenswerte Person gewesen sein, wenn ich die Menschen über sie reden höre. Fast wie eine Heilige. Meine Erinnerungen an sie sind blass und sie geraten allmählich in Vergessenheit. Früher war ich mehrmals pro Woche an ihrem Grab. Heute schaffe ich es vielleicht einmal im Monat. Insgeheim gebe ich ihr die Schuld daran, dass sie uns verlassen hat. Aber der Tod fragt nicht, wann es uns recht ist zu sterben. Er kommt, wenn es ihm passt und es interessiert ihn nicht, wen du hinterlässt.

„Mein Prinz, es tut mir Leid, aber ich darf Euch keinen neuen Whiskey oder anderen Alkohol geben", sagte der Diener, den ich gar nicht eintreten hörte.

Du bist eine Schande für deine Berufsgruppe, weißt du das?", sage ich genervt. „Raus mit dir!"

„Ich habe die Anweisung...", fängt er an, aber ich unterbreche ihn schnell.
Ich scheisse auf deine Anweisung! Raus hab ich gesagt!", schreie ich.

Als er nicht geht,werfe ich mein Glas nach ihm, das auf dem Boden zersplittert. Nun, wenigstens ist der Diener weg. Ich weiß genau, auf wessen Anweisung er handelt.

Und meine Stiefmutter lässt nicht lange auf sich warten.Statt anzuklopfen, reißt sie die Tür förmlich auf und kommt in einer Parfümwolke auf mich zugeschwebt. Wenn der Teufel denn schweben kann...
„Henry, das sieht ja furchtbar aus", tadelt sie mich und wirft einen kritischen Blick auf mein Zimmer. Ich gebe zu, dass ich seit Toris Abreise nicht mehr aufgeräumt habe. Das ist erst drei Tage her, also kann es nicht so schlimm aussehen, wie sie sagt. Außerdem geht sie das gar nichts an.

„Was willst du?", frage ich mit feindseligem Tonfall.„Ich soll dich zum Prozess deines Freundes begleiten", antwortet sie kühl.

Das Wort Freund spricht sie aus, als wäre es meine Schuld, dass Pete Tori entführte. Dabei kann ich ja wohl als Allerletzter dafür. Aber so ist es eben in meiner Familie. Jeder verdächtigt jeden.„Dorthin hätte ich auch selbst gefunden", schnauze ich sie an. „Du kannst gehen."Carla schüttelt ihren frisierten Kopf. Nicht ein Haar getraut es sich, außer Reihe zu tanzen.
„Rede bitte respektvoll mit mir, junger Mann", erwidert sie. „Schließlich habe ich dich großgezogen und ich will es nicht noch mehr bereuen, als ich es ohnehin schon tue."Wenn ich noch ein Glas gehabt hätte, hätte ich es nach ihr geworfen. Aber leider waren meine Hände leer.
„Ich komme", gebe ich nach.
Ich weiß, wann ich verloren habe. Das war die erste Lektion, die ich im Leben lernte. Carla verlässt zufrieden mein Zimmer und wartet vor der Tür, bis ich mich umgezogen habe. Ich will nicht zum Gericht, wenn man es denn so nennen kann. 

Story of my Life - VerlassenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt