Kapitel 23

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Henry 

Die erste Sitzung bei meiner neuen Therapeutin stand an. Ich sitze einer alten, faltigen Frau gegenüber, die genauso eine Hexe aus Harry Potter hätte sein können.
Ihre müden Augenmustern mich aufmerksam und ich habe das Gefühl, sie sieht direkt in meine Seele. Was auch immer sie dort sucht, scheint sie nicht zu finden, denn sie starrt mich schon geschlagene fünf Minuten so an. Und dafür wird sie bezahlt!
Wieder so eine unnötige Geldverschwendung.Ich weiß, dass sie nur ihren Job macht, aber sie könnte wenigstens mit mir reden. Das wäre ein Anfang. Ich seufze und rutsche hin und her.
„Sie sind also der Thronfolger", sagt sie endlich mit einer dünnen Stimme.Ich nicke.
„Ja, der bin ich."
„In Ihnen brennt ein Feuer. Es lodert hell und hoch. Das Feuer der Rache und der Wut", sagt sie und reißt beim Sprechen ihre Augen weit auf, dass ich denke, sie hat eine Vision oder so.Vielleicht ist sie tatsächlich eine Hexe!Ich sage nichts dazu.
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht mit ihr reden, damit sie es einsieht und geht. Aber das wäre nicht förderlich für ihre Berichterstattung bei meiner Großmutter gewesen.
„Sie sind wütend auf sich selbst. Aber auch auf Ihre Familie, die Sie zu etwas drängt, das Sie nicht wollen", fährt sie fort und beugt sich vor. Ich kann ihr Parfüm riechen und ihren Schweiß. Eine eklige Kombination.
Ihre Hände streckt sie nun nach mir aus, um meine zu berühren. Ich zucke zurück, aber sie hält sie erstaunlich fest.„Rennen Sie nicht vor der Wahrheit weg, Henry. Sie wird Sie ohnehin immer einholen", sagt sie lächelnd.
„Aber Sie wissen, dass die Wahrheit schwer zu ertragen ist. Deshalb rennen Sie."Ich senke den Blick. Sie hat Recht. Ich müsste mir die Wahrheit eingestehen, aber das kann ich nicht. Es würde mich ruinieren.
„Haben Sie keine Angst. Wir schaffen das gemeinsam", macht sie mir Mut. „Ich helfe Ihnen."In ihren Augen liegt plötzlich er Glanz der Hoffnung. Es rührt mich, dass sie so ehrlich an mich glaubt. Das tue nicht einmal ich selbst.
„In Ordnung", stimme ich ihrem Vorhaben zu. „Ich werde mich der Wahrheit stellen."Die Therapeutin lächelt zufrieden. Sie hat mich endlich soweit, dass ich mit ihr arbeiten will.In meinem Leben hatte ich schon einige Therapeuten gehabt, besonders nach dem tragischen Tod meiner Mutter. Man sieht ja, wie viel sie mir geholfen haben...
„Schön, Henry. Dann nennen Sie mich doch Eva", schlägt sie vor. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: ich stehe in den Diensten Ihrer Großmutter, weshalb ich ihr gegenüber Rechenschaft ablegen muss."
„Was ist mit der Schweigepflicht?", will ich wissen. Ich weiß natürlich, dass man gegen den Willen der Queen nichts gegensetzen kann. Sie bekommt immer, was sie will.
„Gut aufgepasst", lobt mich Eva. „Ich habe keineswegs vor, ihr zu erzählen, was wir hier besprechen. Das geht sie nichts an. Aber ich muss ihr über Ihre Fortschritte Rede und Antwort stellen. Daher wäre es schön, wenn Sie versuchen könnten, ein bisschen therapierter auszusehen." Sie zwinkert mir zu.
„Gern", sage ich. Eva scheint besser zu sein, als ihre Kollegen, die mich bisher therapierthatten.„Gut, dann lassen Sie uns beginnen", meint sie und holt einen Schreibblock hervor.
„Da ich nicht mit Ihnen arbeiten kann, ohne zu wissen, was Sie beschäftigt, bitte ich Sie,einfach alles zu erzählen."Ich sehe sie unsicher an. Soll ich mich einer fremden Person anvertrauen? Sagt sie wirklich niemand etwas?
„Sie vertrauen mir nicht, stimmt's?"Ich nicke widerstrebend. Sie ist wirklich gut! Aber das mag an ihrer Erfahrung liegen.„Gut. Ich will mir Ihr Vertrauen verdienen. Doch Sie müssen kooperativer sein", meint sie ruhig. „Gibt es eine Person, der sie bedingungslos vertrauen?"Ich nicke.
„Ja, die gibt es."
„Was hat dieser Person getan, um Ihr Vertrauen zu gewinnen?"
„Das kann ich nicht sagen. Es war einfach so, dass ich ihr alles anvertrauen konnte und wusste, dass sie es für sich behält", gestehe ich.Eva notiert sich alles.
„Welches Gefühl hatten Sie, als Sie diese Person das erste Mal trafen?Denn wie Sie sicherlich wissen, entscheidet der erste Eindruck darüber, ob wir jemand mögen oder nicht."Ich überlege kurz.
„Sie kam mir tollpatschig und ungeschickt vor, aber als ich sie dann besser kennenlernte, bemerkte ich ihre zarte Persönlichkeit. Ich hatte das Gefühl, sie würde in meiner Gegenwart aufblühen, verstehen Sie?"Eva nickte.
„Ja, ich weiß, was Sie meinen. Solch einen Menschen sucht jeder von uns.Jemand, bei dem man das Gefühl hat, zu Hause zu sein."Ja, Eva verstand was von ihrem Job.
„Gibt es diese Person aktuell noch in Ihrem Leben?", will sie wissen.
„Nein", antworte ich knapp. Auch das schreibt sie sich auf.
„Dann verstehe ich allmählich, warum Ihre Aura so ungleichmäßig und einsam strahlt. Sie suchen nach ihr, aber wissen genau, dass Sie nicht mehr zurückkehrt. Das löst Schmerz aus,den Sie versuchen mit anderen Mitteln zu betäuben", analysiert sie treffend. „Ich bin keine Spezialistin für Sucht, aber ich kann Ihnen bei Ihren anderen Problemen helfen. Und vielleicht hören Sie dann auf, mit Drogen Ihren Schmerz verstecken zu wollen."Auf einmal strahlt Eva eine ungeheure Autorität aus, vor der ich tatsächlich Respekt habe.Beeindruckend.
„Unser Ziel ist es nun, zu sehen, wie Sie ohne dieser Person zurechtkommen."
Gar nicht!", gebe ich gleich zu. Ich schlage die Hände vor dem Gesicht zusammen und sehe Eva aufrichtig an. „Ich schaffe es einfach nicht und das ist Problem."
„Dann sind wir der Wahrheit schon ein Stück näher gekommen. Ich weiß, dass Sie sich immer noch davor fürchten, alles einzugestehen und mir gegenüber laut auszusprechen. Aber ich glaube an Sie."Ich seufze. Vielleicht sollte ich langsam meine Mauern einreißen und ehrlich zu mir selbst sein.
„Die Wahrheit, Eva, ist, dass ich ein elender Feigling bin", sage ich geradeheraus. „Ich hasse mich selbst ebenso sehr, wie einige andere Personen in meinem Umfeld. Nur kann ich es nicht zeigen, denn das hätte harte Konsequenzen für mich. Ich kann meiner Großmutter nicht die Stirn bieten, meinem Vater meine Verachtung nicht ins Gesicht sagen und meinen Bruder trotz allem, was er mir angetan hat, nicht hassen. Nein, stattdessen stoße ich die Person von mir, die mir stets Kraft und Liebe gegeben hat. Ich betäube meinen Schmerz mit anderen Mitteln, wie Sie es so schön ausdrücken und suche Ersatz bei anderen Frauen. Aber diese Eine kann niemand ersetzen. Meine Freunde sagen, die Zeit heile alle Wunden. Doch ich werde wohl an den Wunden sterben."Eva sagt nichts, sondern schreibt fleißig mit.
„Ich danke Ihnen für einen Einblick in Ihre Seele, Henry. Damit ist die Sitzung für heute beendet", sagt sie und steht auf.
Kein Kommentar, gar nichts! Wie will sie mir damit helfen?

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