Fleisch.

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Der Boden wurde härter, mit jedem Schritt, so schien es, gefrohr er weiter zu Eis. Die Frostschicht breitete sich sternenförmig aus und ließ das staubige Gras knistern. Jeder Kilometer, den Gale zurücklegte, wurde schwerer zu erkämpfen und seine Euphorie sank. Er lief nun schon die dritte Nacht durch die steinigen Landschaften Schwedens. An Schlaf war nicht zu denken. In der Ferne waren manchmal verzerrte Schreie warzunehmen, woraufhin Gale zu dem Schluss kam, dass das, was er in der Hütte des Alten erlebt hatte, die kalte und grausame Realität gewesen war. In den ersten Stunden seiner Flucht hatte sich tief in seinem Herzen die wage Hoffnung geregt, er konnte das alles hier nur träumen. Doch je länger er lief, desto stärker nahm die Erkenntnis zu, dass es nicht so war und je mehr diese Erkenntnis an Größe gewann desto verzweifter wurde Gales Gemüt.
Keuchend kämpfte er sich einen Weg durch den kalten Wald.
Plötzlich vernahm er links von sich laute Geräusche. Die Panik streckte ihre Hand aus und packte sein Herz. Es begann zu flattern und pumpte rasend schnell Adrenalin durch Gales Blutbahnen. Er wirbelte herum und rannte auf einen kahlen Baum zu, erwischte einen der niedrigen Äste und zog sich hoch.
Gerade noch rechtzeitig.
Das Nichts spuckte ein wildgewordenes Rudel Wölfe aus. Sie wetzten hinter Gale her und schnappten immer wieder zu, bellten und knurrten. Nun saß Gale auf einer Astgabel und blickte geschockt auf die Wesen. Ihre Augen waren ebenso tot wie die der "Dinger". Keine Farbe lag in ihnen, nur ein schimmeliges Weiß.
Der junge Mann konnte nicht fassen dass auch anscheinend Tiere diesen Virus weiterverbreiteten. Wenn es denn ein Virus war.
Gale fiel auf, wie mager die Tiere waren. Teilweise traten die Knochen so deutlich aus den Körpern hervor, dass man glatt denken könnte, lebendige Skelette würden angreifen.
Anfangs sprangen die Wölfe den Baum hoch, bellten und stierten ihn an. Doch dann hörten sie auf und bedachteten ihn nur noch mit bösen Blicken.
Die Zeit floss langsam dahin, wie dickflüssige Tinte. Der Baum war glitschig und dornig, Gales Fingerkuppen bestanden nur noch aus rohem Fleisch.
Die Tiere hatten es wohl auf ihn abgesehen, sie lagerten unter seinem Baum. Ein  paar Wölfe lagen weiter abseits der Gruppe, sie waren die Schwächsten und verdienten die Wärme nicht, die sich ihre Artgenossen gegenseitig spendeten.
Sie lagen trägt im Staub und jaulten ab und zu leise.
Nach ein paar Stunden jedoch wagte sich einer der Vernachlässigten nach vorn um nicht erfrieren zu müssen. Er war eher klein und schmächtig gebaut, seine Ohren waren angelegt, in einer geduckten Haltung robbte er voran. Eins der Alphatiere knurrte. Seine blicklosen Augen waren auf den Schwächling gerichtet. Es zog die Lippen nach hinten und zeigte seine verfaulten, spitzen Zähne. Die anderen Tiere hoben die Köpfe und suchten mit ihren toten Augen die Stelle, wo sich die Story zwischen ihren beiden Kollegen abspielte.
Der Schwächling fiepte erbärmlich.
Der Anführer fuhr Plötzlich in die Höhe, geiferte und ging dem Schwächling im darauffolgendem Herzschlag an die Kehle. Das erstickte Jaulen ging im Gekläffe der Meute unter, alle stürzten sich auf das warme Frischfleisch. Gale wendete den Blick ab. Die herumfliegenden Gedarm-, Knochen- und Fleischfetzen erinnerten ihn zu doll an das "Ding" in der alten Hütte. 
Doch da kam ihm ein Gedanke.
Falls die Tiere der selben Spezies entsprangen wie die "Dinger", dann...
Ohne wirklich zu überdenken was er tat, holte Gale mit steifgefrohrenen Fingern eine Flasche des Antigiftes aus seinem Rucksack heraus.
Die Wölfe wurden plötzlich ruhig und schauten nach oben.
Der Kadaver des Schwächlings zuckte.
Auch er erhob sich.
Die Knochen brachen unter dem geringen Gewicht und er stürzte wieder zu Boden.
Die Gedärmen flossen regelrecht aus seinem aufgeschlitzten Bauch.
Und doch lebte er.
Gales Hand zitterte und die Übelkeit bahnte sich ihren schmerzhaften Weg durch seinen Magen.
Er lebt noch.
Mühevoll drehte er die Verschlusskappe des Antigiftes auf und schüttete ein wenig davon in die graue Asche.
Die Wölfe begutachteten sein Tun misstrauisch.
"Kommt schon, probiert doch mal!",
lockte Gale.
Langsam trat das größte Alphatier vor. Es schnupperte an der pappigen Flüssigkeit.
Die anderen Wölfe wurden unruhig.
Dann tauchte der Anführer seine Zunge in den Tod.

TodeswispernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt