Engel.

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Sie war tot.
Ihre Seele hatte die Welt der Sterblichen verlassen und war in ein schwarzes Nichts übergegangen. Sie konnte nicht spüren, wie Fleischbrocken aus ihrem Körper gerissen wurden, sie fühlte den Schmerz nicht. Sie sah die Kreaturen nicht, die ihren ausgemergelten Körper zerfetzten.
Nur ihr Geruchssinn funktionierte. Die roch verbrannten Teer, der Gestank waberte ausschließlich um sie herum, die Luft oberhalb ihres Körpers war frisch und kühl.
Moment. Wenn ich tot bin, sollte ich so etwas gar nicht mehr wahrnehmen können.
Sie wusste, dass sie nicht mehr lebendig war, das Leben war nach dem harten Aufprall aus ihrem Körper gesickert und kein Tropfen war übrig geblieben. Und trotzdem.
Meine Seele hat dem Tod standgehalten. Sie hat sich an mein Herz geklammert und nicht losgelassen.
Dennoch brachte ihr diese Erkenntnis nur wenig. Ihre Seele schien zwar intakt zu sein, doch ihr Körper war nur noch ein zerstörtes Wrack. Zahlreiche Knochen waren gesplittert und gebrochen, die Hasser um sie herum labten sich an ihrem warmen Fleisch. Sie wusste, dass in ihren Kopf Adern geplatzt waren, die innere Blutungen hervorriefen, welche wiederum ihr Gehirn einem imensen Druck auslieferten. Es würde zerquetscht werden, soviel stand fest.
Ich muss hier raus.
Ihre Seele war in ihrem eigenen Körper gefangen. Zaghaft befahl sie sich selbst, eine kleine Bewegung auszulösen. Kleine, kaum wahrnehmbare Druckwellen durchpflügten ihren Körper, als sie sich regte, doch mehr geschah nicht.
Ich muss eine Menge Kraft besitzen.
Sie wagte einen weiteren Versuch, nur, dass sie sich diesmal ein wenig mehr bewegte. Ein starkes Zucken erschütterte den Körper, in dem sie gefangen war.
Ich muss mich selbst zerstören, wenn ich hier raus will.
Diese Erkenntnis war so irreal, dass ihre Seele ein verzweifeltes Kichern zustande brachte, welches sich glockenklar ausbreitete und zurückgeworfen wurde.
Ich muss meinem Vater helfen. In dieser neuen, schrecklichen Welt kann er ohne Unterstützung nicht überleben.
Aus diesem Gedanken schöpfte sie Kraft. Sie würde sich selbst dafür entbehren, um Gale zu helfen, nicht ebenfalls in solch eine schreckliche Situation zu kommen.
Die Seele, die einst Dagnas Körper bewohnt hatte, begann zu zittern, ein gewaltiges Beben ging durch den Körper, der nun nicht mehr als eine nutzlos gewordene Hülle geworden war. Sie spürte, wie sich etwas auf ihrem Rücken bewegte. Sie wusste, dass sie keine nennenswerte Form besaß, doch sie dachte an den Körper eines Menschen, der ihr so viele Jahre genutzt hatte.
Zwischen den dünnen Schulterblättern brachen zwei rauchblasse Spitzen hervor. Bebend breiteten sie sich aus, wuchsen und streckten sich, zerbrachen das Gefängnis um sich herum und schufen einen Weg ins Freie. Sie stieg in die Höhe.
Die Spitzen entfalteten sich, wuchsen immer schneller.
Nebelzarte, riesige Schwingen breiteten sich wie von selbst aus.
Sie funkelten schwarz und waren stark und doch so hauchzart wie eine seichte Briese. Die Seele schlug mit ihnen und beförterte sich so in die Höhe. Von oben blickte sie auf ihren ehemaligen, geschundenen Körper.
Die Augen blickten gebrochen zum Himmel, schwarzes Blut sickerte aus zahllosen Wunden. Die Hasser rissen Gliedmaßen heraus und taten sich an dem warmen Fleisch gütlich.
Sie konnten die in den Teer eingebrannten Flügel nicht erkennen, die sich unter dem Körper entfaltet und der Toten ein letztes Lächeln entlockt hatten, welches für immer present sein würde.
Ich bin zu einem Engel geworden.

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