Erwachen.

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Das erstickende Gefühl, das seine Brust unbarmherzig zusammenzog und ihm die Luft nahm, wollte nicht vergehen.
Ohne Hoffnung auf Erlösung war Gale dazu verdammt, in einem Meer der Qual herumzutreiben. Er konnte schon lange nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden oder sagen, was mit ihm geschah. Das einzige, was seine Gedanken beherrschte waren Schmerz und eine unerträgliche Hitze.
Und das Gefühl, nicht allein zu sein. Dieses Gefühl raubte ihm den Verstand, lähmte seinen Mut und schürte seine Angst.
Immer wieder spürte er die bohrenden Blicke. Sie kamen von überall her, schauten ihm direkt in die Augen oder durch ihn hindurch, in sein Innerstes oder auf seinen Körper. Sein Herz und sein Gehirn waren ihnen ausgeliefert und er wusste, das sie wussten, dass er langsam verzweifelte. Seine intimsten Gedanken und Geheimnisse konnte er nicht länger sein Eigen nennen. Sie lagen ausgebreitet auf einem Tablett vor den gierigen Blicken und warteten darauf, von ihnen betrachtet zu werden.
Nach Stunden oder sogar Tagen ebbte dieses Gefühl ab und er war dankbar dafür.
Manchmal gelang es ihm, für einen kurzen Moment die verklebten Augen zu öffnen, aber was sie ihm offenbarten, brachte ihn erneut zum verzweifeln.
Er sah verkohlten Morast, abgebrannte Gebäude und undefinierbare, übel zugerichtete Leichenteile.
Gale hoffete inständig, dass ihm sein Sehsinn einen Streich spielte, oder dass dies ein weiterer qualvoller Traum war.
Die Zeit war zu einem dickflüssigen Fluss geworden der langsam vor sich hin waberte.
Irgendwann trat er über seine dunklen Ufer und ertränkte Gale.

Ein stechendes Gefühl in seinen Augen ließ ihn in die Realität zurückkehren. Keuchend erwachte er und blickte auf.
Sofort wurde er von von dem Gefühl überfallen und niedergerungen. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, das seine Hände und Füße mit Stricken fest verschnürt waren und er sich kaum einen Millimeter bewegen konnte. Zusätzlich hatte jemand rauen Stoff in seinem Mund versenkt, der ihn an frisches Wasser denken ließ, denn seine Kehle war wie ausgedörrt. Aber auch ein anderer Gedanke drängte sich mit Macht in seinen Verstand: Blut! Das Verlangen nach dem dunklen, warmen Lebenssaft der Menschen erweckte eine unbezwingbare Gier in ihm.
Mühsam öffnete er die Augen. Seine Pupillen schrumpften sofort auf die Größe eines Stecknadelkopfes, da die Sonne hoch am Himmel stand und unbarmherzig auf ihn herableuchtete.
Er lag auf einem freien Feld, auf dem schwarze Baumstämme standen, die ehemals wunderschöne Baumwipfel in der Höhe erhalten hatten.
Nun waren sie abgebrannt und kein Schatten verdunkelte mehr den ehemaligen Waldboden.
In der trokenen Luft flimmerten silbrige Aschepartikel.
Als er sich weiter umsah, entdeckte er eine zusammengeschrumpfte Gestalt, die er nicht sicher definieren konnte.
Sie bewege sich nicht und schien sich auch sonst nicht für ihn zu interessieren.
Als er jedoch an seinen Fesseln zu reißen begann, drehte sie sich um und war in Sekundenschnelle bei ihm.
Als sie sich über Gale beugte, sah er ihr Gesicht nicht sofort, da eine dunkelgraue Kaputze aus Wolle das Anglitz verdeckte. Doch er nahm andere Dinge wahr; das Rauschen ihres Blutes in den Adern, den Geruch von Wärme und das rhythmische Pochen des jungen Herzens. Eine Windböe riss die Kaputze plötzlich nach hinten und das Gesicht einer jungen Frau entblößte sich ihm.
Sie sah ihm in die Augen.
Die Welt schien stillzustehen.
Gales Augen nahmen eine stechende Schärfe an, sodass er ihr Gesicht wie unter einem sehr starken Vergrößerungsglaß wahrnahm. Er erkannte jede Pore, bemerkte blasse Sommersprossen und die goldenen Sprenkel in ihren dunkelgrünen Augen.
Doch auf einmal wurde sein Blick in den Kopf der jungen Frau gezogen.
Und was er bei diesem Anblick empfand war ein unhaltbares Verlangen.
Er sah den makellos weißen Schädel.
Flüssigkeiten wie Blut.
Und das Gehirn.
Intelligenz, die zu einem Ball geformt aus einem Servierteller vor ihm lag.
Hunger, dachte er, Hunger!
Die Stricke um seine Handgelenke dehnten sich.
Die Frau wich zurück.
Und dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Die Fesseln zersprangen, Gale warf sich auf die Frau und diese zog einen scharfen Gegenstand über seine Wange. Der Schmerz brannte sich kalt in seinen Kopf und klärte gleichzeitig seine Sinne.
Doch bevor er noch irgendetwas tun konnte, krachte ein schwerer Gegenstand gegen seine Schläfe.
Er sackte weg und sah, wie ihn die Dunkelheit angrinste.

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