Als er das nächste Mal erwachte, war er mit stärkeren Seilen an einen dicken, abgebrannten Baumstumpf gefesselt. Zu seiner Erleichterung waren seine Gelüste nach Blut verebbt, dafür war seine Kehle ausgetrocknet und verlangte nach Wasser. Erschöpft blickte er sich um und entdeckte in wenigen Metern Entfernung wieder die junge Frau. Diesmal trug sie kein Tuch, welches ihr Antlitz vor ihm verbergen konnte. Er musterte sie. Ihre bleiche Haut war mit blassen Sommersprossen gesprenkelt und ihre blattgrünen Augen versprühten ein goldenes Leuchten. Feuer lag in ihrem vollen, kastanienbraunen Haar und ihre Haltung hatte etwas Katzengleiches. Doch ihre Schönheit konnte nicht die Feindseligkeit überstrahlen, welche in ihrem Blick lag. Böse starrte sie ihn an. Er machte eine unbeholfene Geste mit seinen gefesselten Armen. „Hast du etwas Wasser für mich?“ Abscheu mischte sich unter ihre Züge. Mit ihrer rechten Hand griff sie nach einer Feldflasche und warf sie ihm vor die Füße. Als sie sah, wie er verzweifelt versuchte sie mit seinen Beinen an sich heranzuziehen, schnaubte sie höhnisch. Er blickte auf. „Warum sollte ich dich am Leben lassen?“, fragte sie ihn. Ihre Stimme war gefährlich und erstaunlich sanft. Gale krächzte: „Das ist eine berechtigte Frage. Ich würde sie dir vermutlich auch stellen, wärst du an meiner statt an diesen Baum gefesselt. Nur stellt sich mir gerade eine völlig andere: warum solltest du mich töten wenn du wertvolle Rohstoffe wie sauberes Wasser, welches in dieser Gegend kaum aufzutreiben ist oder Material wie Stoff“, er wies auf die ihm unbekannten Klamotten die er trug, „ oder Seil verschwendest, um mich so ganz offensichtlich am Leben zu erhalten?“ „Um feststellen zu können, ob du mir von Nutzen sein könntest, sobald du wieder bei klarem Verstand wärst“, konterte sie ungerührt. „Und welche Bereicherungen erhoffst du dir mit meinem Nutzen?“, wollte er wissen. „Informationen.“ „Die benötige ich im Moment auch. Wir könnten welche austauschen“, schlug Gale vor. Die junge Frau schnaubte. „Informationen wären für dich nur von geringem Nutzen wenn ich dich töte.“ „Wenn du mich tötest schaufelst du dir damit nur dein eigenes Grab“, sagte er kalt. Und damit hatte er Recht. Würde sie ihn verwunden, zöge der Geruch von Blut die grauenhaften Kreaturen an, mit denen Gale schon einige unschöne Erfahrungen gemacht hatte. Die Frau stand auf und reckte sich betont gelassen. „Ich wäre schneller von hier weg als dein toter Körper den Willenlosen zur Mahlzeit werden könnte.“ „Willenlose?“, fragte Gale. Er hatte den Kreaturen keinen Namen gegeben. „Willenlos, weil sie nicht mehr das tun, was den Normalitäten eines Menschen entspricht. Sie besitzen keine Seele, keinen eigenen Willen. Sie hassen Eisen und Feuer und alle Lebewesen mit warmem Blut in den Adern. Und doch haben sie eine unbeschreibliche Intelligenz, die sich nicht mit der unseren messen lässt.“ Sie stutzte. „Warum erzähle ich dir das eigentlich. Da du selbst von einem von ihnen verstümmelt worden bist, solltest du sie kennen.“ Ein kalter Schauer rann Gale den Rücken hinunter. „Ich bin was?“ „Ein Willenloser wollte dir die Kehle aufreißen als ich dich fand. Die Asche um dich herum glitzerte bereits rot vom Blut, er hatte deine Bauchdecke aufgeschlitzt. Ich schlug ihn nieder und nahm dich mit. Ich flickte dich zusammen und als Dank wolltest du mich fressen.“ Gale wurde plötzlich schlecht. „Ich…wollte dich fressen?“ „Ja“, flüsterte sie und in ihren Augen standen Wut und Trauer. „Als ich deine Wunden versorgte bemerkte ich, dass ein Knochensplitter in deinem Bauch feststeckte. Ich habe alles versucht um ihn da rauszuholen, doch vergebens. Da du unter anderen Umständen selbst ein Willenloser geworden wärst, bohrte ich ein Stück Eisen in deine Gedärme. Es verlangsamt den Prozess jedoch nur, du bist nicht vollständig geheilt. Ich hoffe in Schottland haben sie ausreichend medizinische Verpflegung um dich gesundzumachen.“ Gales Kopf schwirrte. Es waren ganz einfach zu viele Informationen die er verarbeiten musste und der Wassermangel vereinfachte die Sache auch nicht. „Ich dachte, du wolltest mich töten?“ würgte er noch hervor. Dann versank er erneut in einer tiefen Ohnmacht.
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Todeswispern
Mystery / Thriller„Zu spät. Die Zähne gruben sich scharf in seine Kehle. Gleich darauf riss ein gleißender Schmerz seinen Körper samt Seele entzwei. Das Messer in seiner Hand fühlte sich mit einem Mal tonnenschwer an. So ließ er es fallen. 'Ich habe verloren.' Alle...